Kristall der Macht
begreifen, in welcher Gefahr sie selbst dann noch schweben, wenn der Nebel sich verzogen hat.«
»Warum?« Der Dämon gab sich gelangweilt.
»Weil sie sich dann schützen können.«
»Schützen!« Der Dämon spie das Wort aus, als hätte es einen bitteren Beigeschmack. »Die Menschen von Nintau sind mir gleich. Sie hassen mich und halten mich für eine todbringende Bestie. Warum sollte ich ihnen helfen?«
»Weil sie dann ihren Fehler erkennen und dich nicht mehr für eine Bestie halten«, versuchte Kaori zu erklären. »Und … und weil sie dann vielleicht auch einen Weg suchen, um ihre Schuld wiedergutzumachen und dich zu befreien. Ich meine, wenn die Maor-Say die Jungfrauen erlöst hat, indem sie die Statuen zerstörte, könnte man dich vielleicht auch …«
»… befreien, indem mein Steinkörper zerstört wird?« Eine leichte Traurigkeit schwang in der Stimme des Luantar mit. »So einfach ist das nicht.«
»Nicht?«
»Nein.«
»Weil der Fels nicht zerstört werden kann?«
»Nein.«
»Warum dann?«
»Weil sie dafür die Maor-Say töten müssten.«
* * *
Die Sonne neigte sich dem Horizont entgegen, als auf dem Pfad nahe dem Tempel endlich wieder eilige Schritte zu hören waren. In der Zeit nach dem Aufbruch der Gruppe hatte sich ein gespanntes Schweigen über den Platz gelegt. Nur wenige hatten leise miteinander gesprochen, die meisten hatten einfach nur dagesessen und gewartet.
»Sie kommen!« Die beiden Worte aus dem Mund eines jungen Mädchens, das der Gruppe voller Ungeduld entgegengeeilt war und nun den Platz als Erste erreichte, kam einem Zauberspruch gleich, der die Menschen zu neuem Leben erweckte. Das summende Stimmengewirr setzte wieder ein, als die Wartenden sich erhoben, um besser sehen zu können, und dabei erneut miteinander zu reden begannen. Als endlich der erste der Rückkehrer auf den Platz trat, wurde es schlagartig still. »Es ist wahr!«, verkündete er ohne Umschweife. »Der Dämon ist nicht geweckt worden. Er liegt steif und starr auf seinem Platz. Die Jungfrauen hingegen …«
»… habe ich mit meinen eigenen Händen zerstört«, fiel Jamak dem Sprecher ins Wort.
»Aber …« Noelani war empört über die Lüge. Sie wollte etwas einwenden, aber Jamak schüttelte nur mahnend den Kopf und gab ihr mit einem Blick zu verstehen, dass sie schweigen möge.
»Warum?«, fragte der junge Mann, der für die Kundschafter sprach. »Warum hast du sie zerstört?«
»Weil ich Beweise suchte«, gab Jamak freimütig zu. »Als ich sah, dass der Dämon nicht erwacht ist, wurde mir klar, dass wir all die Jahre mit einer Lüge gelebt haben. Der Dämon war nie eine Gefahr für uns. Das Wissen um den Bann sollte uns in Sicherheit wiegen, aber wir waren niemals sicher. Deshalb wollte ich wissen, ob auch die Macht, die den Jungfrauen zugeschrieben wird, eine Lüge ist, und nachdem ich sie zerstört hatte, musste ich feststellen, dass dem tatsächlich so ist.«
»Wenn es der Dämon nicht war, wer oder was hat dann meinen Mann und Kinder getötet?«, fragte eine Frau unter Tränen.
»Auf diese Frage werden wir so schnell keine Antwort finden.« Noelani nutzte die Gelegenheit, um wieder das Wort zu ergreifen. Sie war Jamak unendlich dankbar für seine Hilfe, wollte aber nicht hinter ihm zurückstehen. »Wenn wir früher an den Überlieferungen gezweifelt, sie hinterfragt und nach Antworten gesucht hätten, hätten wir sie vielleicht gefunden. Dann wäre das Schreckliche heute nicht geschehen, dessen bin ich gewiss. So aber lebten wir blind und taub in den Tag hinein, im Vertrauen auf die Legenden, die uns glauben machten, in Sicherheit zu sein. Wir kennen die Ursache für die Katastrophe nicht, doch eines ist gewiss: Was zweimal geschehen ist, kann immer wieder geschehen.«
Sie zögerte kurz, weil sie nicht sicher war, wie die Versammelten das Ergebnis ihrer Überlegungen aufnehmen würden, dann sagte sie: »Solange wir nicht wissen, woher die giftige Wolke stammt, können wir keine Gegenmaßnahmen ergreifen, und solange dies nicht geschehen ist, werden wir auf Nintau nicht sicher sein.« Noelani ließ den Blick über die Menge schweifen. Niemand sagte etwas, aber es war nicht zu übersehen, dass die Stimmung umgeschlagen war. Die Menschen schauten nicht mehr so finster, nicht einer reckte die Faust in die Höhe, und niemand wagte es jetzt noch, sie zu beschimpfen. Statt Wut, Zorn und Rachegedanken lastete eine Stimmung auf dem Platz, die erfüllt war von tiefer Bestürzung und
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