Kristall der Träume
Aber du bist zu kräftig für einen Geist!« Molok hob selbstgefällig die Arme und erklärte den restlichen Tag zum Feiertag. Eine unnötige Erklärung, da bereits Bierfässer herausgerollt, frisch geschlachtete Ziegen und Schafe herbeigeschleppt wurden und Fladenbrot und Schalen mit Honig in Windeseile auftauchten. Bevor überhaupt alle Zelte aufgebaut waren, erklangen Flöten und Rasseln, begleitet von Willkommensrufen und Schreien des Entzückens. So war es also doch noch wie in alten Tagen.
Wie es schien, hatte sich bei Sonnenuntergang die gesamte Dorfbevölkerung eingefunden und vergnügte sich, rund um die Feuerstellen hockend, mit Essen, Klatsch und Neuigkeiten. Nur die zwei Menschen, nach denen Avram am meisten Ausschau gehalten hatte, waren nicht darunter, und er wagte nicht, die Brüder nach Reina und Marit zu fragen.
Wenngleich er sich an seinem Heimatort befand, hatte Avram innerhalb der Karawane ein kleines Lager für sich aufgeschlagen, da er sich über seine Stellung bei den eigenen Leuten nicht sicher war.
Obwohl die Schuld an Yubals Tod nicht bei ihm lag, lastete immer noch die Familienschande auf seinen Schultern. Aber nichts schien die Freude der Brüder zu trüben, die nur allzu glücklich Enten auf das Feuer legten und Brot und Weinschläuche herbeischleppten. Sie platzten vor Neugier, wollten alles von ihm hören und staunten über seinen Hund.
Als Avram seine alten Freunde und Nachbarn so fröhlich in dieses improvisierte Fest einstimmen sah, kam ihm ein Gedanke, den er in all den Jahren seiner Abwesenheit nie zu denken gewagt hatte: Die Menschen hier wussten offenbar gar nicht, dass er derjenige war, der das blaue Kristallherz der Göttin gestohlen hatte. Ebenso wenig wussten sie, dass er aus Feigheit weggelaufen war. Die Vorstellung, dass er Schande über sein Volk gebracht hatte, bestand nur in Avrams Kopf, während die anderen nicht einmal ahnten, was ihm zugestoßen war. Sie dachten, ich sei getötet oder entführt worden, wäre aus Kummer verschwunden und irgendwo gestorben. Wie kann ich sie um Vergebung bitten, wenn sie nichts zu vergeben haben?
Und dann entdeckte er noch etwas in ihren erwartungsvollen Blicken: Sie wollten die Wahrheit gar nicht wissen. Mit Schrecken wurde ihm klar, dass sie während seiner Abwesenheit unendlich viel Leid und Missgeschick erlebt hatten, und dass es noch viel grausamer wäre, jetzt neue Schande über sie zu bringen. Also tischte er ihnen eine wilde Geschichte auf, in der er sich aus Kummer verirrte, sein Gedächtnis verlor, gefangen genommen wurde und sich nach Hause durchkämpfte – eine abenteuerliche Geschichte, in der es von Göttern und Monstern, lüsternen Frauen und Heldentaten nur so wimmelte –, eine Geschichte, die wohl nicht alle glaubten, aber ungemein unterhaltsam fanden. Und während die Weinschläuche die Runde machten, gab keiner Avram mehr die Schuld an dem, was sich zehn Jahre zuvor ereignet hatte. Die Vergangenheit war Vergangenheit. Sich fröhlich zu betrinken war das, was heute zählte.
Und schließlich erzählten seine Brüder ihre traurige Geschichte.
Es hatte viele Missgeschicke gegeben, seitdem er fort war. Nach den Räubern hatten sie einige Missernten erlebt, und dann hatten sich die Heuschrecken über die Felder hergemacht und alles vernichtet, sodass viele Familien ihre Zelte im Dorf abbrachen und ihr Nomadenleben wieder aufnahmen. In dem einst so blühenden Dorf hielten es nur noch einige wenige Standhafte aus. »Was für einen Sinn hat es, ein Feld zu bestellen und Früchte anzubauen, wenn sie einem wieder gestohlen werden?«
Auf Avrams Frage nach den Weinbergen schüttelte Caleb traurig den Kopf und berichtete, dass es in diesem Sommer nur eine karge Weinernte gegeben hatte, gerade genug, um Rosinen daraus zu machen und an Vorbeireisende zu verkaufen. »Die Nomaden kommen hierher, schlagen ihr Lager auf und bedienen sich an unseren Trauben. Wie sollen wir sie zu dritt vertreiben? Wir können unsere Weinberge nicht Tag und Nacht bewachen.«
»Was ist mit den Söhnen aus dem Serophia-Clan?« Wie Caleb ihm mit bitteren Worten erklärte, war Marit nach Yubals Tod mit ihren Brüdern in den Schoß ihrer Familie zurückgekehrt. Sie hatten, als die Marodeure kamen, ihre eigenen Gerstefelder bestens verteidigt, während die Weinstöcke restlos geplündert wurden.
Und als sich nach zwei Jahren zum ersten Mal wieder eine gute Ernte abzeichnete, kamen die Heuschrecken. Seitdem reichte die Weinproduktion gerade für den
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