Kristall der Träume
Eigenbedarf.
Avram war erschüttert, denn gerade der Weinhandel war das Rückgrat des Dorfes gewesen; der Wein hatte die Menschen wohlhabend gemacht und sie vor allem einst bewogen, ihr Nomadenleben aufzugeben und sesshaft zu werden. »Das wird sich jetzt ändern«, versicherte Avram seinem Bruder. »Wir werden die Weinreben wieder zum Blühen bringen, und wenn die Räuber das nächste Mal kommen, sind wir vorbereitet.« Im Geiste legte er sich bereits einen Plan zurecht: Er würde den einheimischen Männern je einen gefüllten Weinschlauch im Tausch für eine Nachtwache in den Weinbergen anbieten.
»Wo ist die Priesterin Reina?«, fragte er schließlich und fürchtete sich bereits vor der Antwort.
Sie gab auf den Schrein Acht, wurde ihm beschieden. Die Göttin kam nicht mehr heraus unter die Leute, sie hatte die Prozessionen vor zehn Jahren eingestellt. Aber sie war immer noch da, wie ihre getreue Dienerin auch.
Avram forderte seine Brüder auf, es sich weiterhin bei Wein und Essen am Feuer gemütlich zu machen, entschuldigte sich und verließ auf unsicheren Beinen das laute Lager. Zuerst schaute er nach den Weinbergen und war entsetzt zu sehen, was sich ihm im letzten Licht des Tages darbot. Die Brüder hatten, so gut es ging, einen Schutzzaun um ein klägliches Areal errichtet, aber ein Großteil der einst üppigen Weinberge lag verdorrt und von Unkraut überwuchert.
Von dem einstigen hölzernen Wachturm gab es keine Spur mehr, und wo früher schmucke Lehmziegelhäuser standen, war nur noch ein großes Zelt aus Ziegenhäuten vorhanden. Mit zunehmender Beklemmung ging Avram weiter durch das verlassene Dorf, dessen Bewohner fröhlich im Karawanenlager feierten. Was er sah, versetzte ihm einen bösen Schock. Das Haus von Guri, dem Lampenmacher, das Zelt der sechs Leinenweber-Brüder, die Unterkunft von Enoch, dem Zahnreißer, und Lea, der Hebamme, Namirs Lehmziegelhaus und das von Yasap, dem Honigsammler –
sie waren alle verschwunden. Die Ansiedlung bestand nur noch aus schäbigen Behausungen mit dem Anstrich des Provisoriums wie zu Zeiten der Vorfahren, ehe sie sesshaft wurden. Als er schließlich Parthalan, den Muschelarbeiter, fand, glaubte Avram seinen Augen nicht zu trauen. Der alte Mann war allein und praktisch blind. Er vegetierte in einer Grashütte und war kaum mehr in der Lage, die wenigen Muscheln zu bearbeiten, die er noch fand. Er weinte, als er Avram erblickte, gab ihm jedoch keine Schuld an seinem Missgeschick. »Das Leben ist ein Fluch«, erklärte er. »Der Tod ein Segen.« Avram dachte an die Geschenke, die er für Parthalan ausgesucht hatte: wunderschöne Muscheln zum Schnitzen, die jedoch unter den zittrigen Händen des blinden Mannes ruiniert würden.
Bittere Galle stieg in ihm auf, als er den alten Muschelarbeiter verließ. Nichts geschah aus Zufall, das wusste er mit Sicherheit.
Alles hatte seinen Grund. Als er sich in der heruntergekommenen Ansiedlung umschaute und den Stempel des Missgeschicks auf allem sah, wusste er den Grund. Es war alles Yubals Schuld. Hätte er nicht ein falsches Spiel gespielt, wäre er nicht gestorben, und die Weinberge und die Siedlung würden weiterhin prächtig gedeihen.
Mit Bitterkeit im Herzen machte Avram sich auf den letzten Weg, den er nehmen musste: zu Serophias Haus. Zu Marit. Auch hier war das Lehmziegelhaus verschwunden, unter dem an seiner Stelle errichteten Zelt waren die bröckelnden Fundamente noch sichtbar.
Marit stand vor dem Ofen und warf Heu hinein, auf den Kochsteinen bräunten Fladenbrote. Sie blickte nicht auf, aber Avram spürte, dass sie ihn erkannte.
Sie war in seiner Abwesenheit wunderbar füllig geworden, eine Frau, ganz Fleisch und Kurven, die die Arme eines Mannes ausfüllten. Aber nicht meine Arme, dachte er bitter, denn obwohl sein Herz immer noch nach ihr schrie und sein Körper nach ihr hungerte, schmerzte die Erinnerung an jene schicksalhafte Nacht mehr als tausend Messerstiche. Er würde sie nie wieder ansehen können, ohne an Yubals Verrat zu denken, und er würde nie wieder ihre Haut berühren können, ohne sie in Yubals Armen zu sehen.
»Wieso bist du gekommen?«, fragte sie tonlos. Avram wusste nicht, was er sagen sollte. Er hatte geglaubt, sie würde sich freuen, wenn sie ihn sah, oder zumindest froh sein, dass er noch lebte.
Sie wandte sich ihm zu und musterte ihn mit Augen kalt wie Stein. Ihr Gesicht, zwar immer noch rund und schön, war nach Jahren der Mühsal und Enttäuschung von Falten gezeichnet, und ihre
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