Kristall der Träume
Hadadezer fort, während er nach einem gebratenen Täubchen griff. »Obwohl es mich nicht überrascht hat. Kein bisschen.«
Avram sah ihn überrascht an. »Was meinst du damit?«
»Yubal hatte schon länger über Schmerzen im Kopf geklagt.
Wahrscheinlich hat er dir nichts davon erzählt, um dich nicht zu beunruhigen. Wenn er sich aufregte oder zu sehr anstrengte, fing es in seinem Kopf schmerzhaft an zu klopfen. Er fragte mich, ob ich eine Medizin für ihn hätte, aber ich musste passen. Ich riet ihm jedoch, mit seinen Kräften hauszuhalten, weil ich schon jüngere Männer mit derlei Beschwerden erlebt habe. Es hieß, er sei gestorben, weil er sich bei einem jungen Mädchen verausgabt habe.«
Hadadezer nickte bedeutungsvoll. »Das genügte.«
Avram starrte den Mann fassungslos an. Yubal hatte Beschwerden, die ihm den Tod bringen konnten? Dann war Avrams Fluch gar nicht schuld gewesen?
Er war wie vom Donner gerührt. Und all die Jahre hatte diese schwere Schuld auf ihm gelastet. Ich habe meinen geliebten Abba nicht umgebracht. Ein unbeschreibliches Glücksgefühl erfasste ihn, am liebsten hätte er der Göttin und allen heimischen Göttern auf der Stelle ein Opfer gebracht. Er hätte dem hünenhaften Hadadezer um den Hals fallen und jedem versichern mögen, was für ein herrlicher Ort diese Welt doch sei. Er beschränkte sich jedoch darauf, einen langen Schluck Bier zu nehmen und sich genüsslich die Lippen zu lecken. Hadadezer nickte. »Eine Menge ist danach passiert, mein Junge. Zwei Jahre nach Yubals Tod kamen die Räuber. Diesmal waren sie besonders gründlich. Viele Menschen fanden den Tod.
Und im Jahr darauf kamen die Heuschrecken.«
Avram wurde wieder ernst. Er gierte nach Neuigkeiten von zu Hause. »Lebt meine Großmutter noch? Wie geht es meinen Brüdern?« Hadadezer erklärte ihm, dass er nach seinem letzten Besuch an der Stätte der Ewigen Quelle sein Karawanengeschäft in die Hände seiner Neffen gelegt hätte, um seine letzten Lebensjahre in Ruhe zu genießen. Die Neffen berichteten nur, was sie für wichtig erachteten: von Überfällen, Heuschreckenplagen oder Missernten.
Wer gestorben war oder noch lebte, interessierte sie kaum.
Hadadezer gestand, dass sein Karawanengeschäft nach den Missgeschicken an der Stätte der Ewigen Quelle nicht mehr so gut wie früher lief. »Sie handeln auch nicht mehr mit Wein«, schloss er.
»Und das vermisse ich besonders.«
Erschrocken ließ Avram den Trinkhalm sinken. »Was ist passiert?« Hadadezer zuckte die Achseln. »Sie produzieren nur noch Wein für den eigenen Gebrauch.«
Avram stellte sich seine Brüder vor, die ehemals zwischen den Weinstöcken herumgetollt waren und nun, als Erwachsene, mit der Pflege der Weinstöcke, der Weinernte und der Produktion zu kämpfen hatten. Ohne die Hilfe des weisen Yubal.
»Du sagst, du willst zurückgehen?«, fragte Hadadezer, während er sich diskret einen leeren Schlauch unter den Umhang schob und hinein urinierte.
»Ja, ich gehe nach Hause. Ich war fast zehn Jahre weg.«
Hadadezer nickte zustimmend, reichte den Schlauch einem Diener und rieb sich die Hände an seinem Bart. »Junger Freund, ich frage mich, ob wir beide nicht ins Geschäft kommen können.« Und als der durchtriebene Händler ihm seinen Plan unterbreitete, musste Avram zugestehen, dass er beiden zum Vorteil gereichen würde. Wenn die Karawane das nächste Mal zu ihrer jährlichen Reise nach Süden aufbrach, würde Avram sie anführen.
Er blieb den Sommer über in Hadadezers seltsamer Bergfestung, genoss die Gastfreundschaft des Händlers und die Gesellschaft der Nichten in seinem Bett. Und er entdeckte viele neue Wunder bei diesen tüchtigen, erfindungsreichen Menschen: Tongeschirr, das im Ofen gebrannt wurde; Werkzeug, das aus geschmolzenem Kupfer gegossen wurde; Rinder, die vor Pflüge gespannt wurden, und schließlich Verschlage mit Kühen, die nicht in Freiheit, sondern im Stall geboren waren und nur wegen ihrer Milch gehalten wurden, so wie Bodolf das mit seinen Rentieren tat.
»Du wirst bemerkt haben, dass wir den Stier verehren, Avram«, sagte Hadadezer, der auf seinem Tragegestell zu den Kuhställen gebracht worden war. »Der Stier ist der Schöpfer des Lebens. Unsere Frauen baden in Stierblut, um schwanger zu werden.« Avram hatte die zahlreichen Stierhörner und -symbole in den Häusern gesehen und sich darüber gewundert, dass diese kräftigen Tiere sich so geduldig von Menschen führen ließen. Verfügten diese über einen
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