Kristall der Träume
besonderen Zauber, um Tiere zu zähmen? »In der Zeit unserer Vorfahren«, begann Hadadezer, während er Avram eine Schale mit Joghurt reichte, »bevor wir diese Festung in die Berge gebaut haben, als wir noch in Zelten lebten und durch die Ebenen streiften, haben wir die Erde und den Himmel angebetet, denn wir wussten nichts davon, wie der Stier der Kuh das Kalb gibt. Und dann wurde unseren Vorfahren von den Göttern befohlen, sesshaft zu werden, die Tiere von den Ebenen zu uns zu holen und zu halten, damit der Geist des Großen Stiers unser Volk fruchtbar machen würde. Es ist der Geist des Großen Stiers, der unser Volk so stark macht, Avram. Dein Volk ist aus dem Mond geboren, das macht euch schwach. Ich will dich keineswegs beleidigen, ich sage nur die Wahrheit. Ich würde dir gern einen Stier mitgeben, aber diese Tiere sind schlecht zu transportieren.«
Als Avram Hadadezer ganz ähnlich über den Stier reden hörte wie Bodolf über sein Rentier, sann er darüber nach, ob jede Art sich durch einen anderen Gott fortpflanzte. Das würde auch das unterschiedliche Erscheinungsbild der Völker auf der Erde erklären –
das Volk des Rentiers hatte seine weizenblonden Haare und helle Haut vom Trinken der Rentiermilch, während die rötliche Haut von Hadadezers Volk vom Stierblut herrührte. Und in meinem Volk sind die Menschen klein und dunkelhäutig, denn wir sind aus dem Mond geboren, und sein Reich ist die Nacht.
Während Avram zwischen Steinmauern unter den dunkeläugigen Menschen lebte, ihre Lebensweise annahm, mit ihren Frauen schlief und sich sein Magen an Joghurt und Käse gewöhnte, begann eine seltsame Krankheit in seine Seele zu kriechen. Sie äußerte sich in finsteren, turbulenten Träumen und Erinnerungen, die ihn unerwartet überfielen und nur um ein Thema kreisten: die Nacht, in der Yubal starb. Im Traum musste Avram jene schreckliche Nacht immer aufs Neue durchleben, sah sich aufwachen und die beiden nackten Gestalten umschlungen in der Dunkelheit stehen, während ihm die schmerzhafte Erkenntnis durchzuckte, dass Yubal alles so eingefädelt hatte, um Marit für sich zu haben. Wenn Avram morgens schweißgebadet erwachte, überfiel ihn dieser Schmerz mit neuer Wucht. In all den Jahren, da er kreuz und quer durch die Welt gewandert war, hatte Avram nicht einen Gedanken an Yubals Hinterhältigkeit verschwendet, die seinen Fluch ausgelöst hatte.
Seitdem er jedoch wusste, dass sein Fluch nicht für Yubals Tod verantwortlich war, quälte ihn die bittere Wahrheit, dass der über alles geliebte und verehrte Mann ihn auf so schändliche Weise hintergangen hatte, um Marit für sich zu haben.
Schließlich ging der Sommer zur Neige, und Hadadezer befragte den heimischen Wahrsager, der den Zeitpunkt für die Abreise der Karawane für günstig erklärte.
Hadadezer bereute inzwischen, die Geschäfte seinen Neffen übergeben zu haben, da diese ein faules Pack und ohne jeden Geschäftssinn seien, wie er Avram am Vorabend der Abreise anvertraute. Er gab sogar offen zu, dass sie ihn betrogen.
Unglücklicherweise gebot es die Tradition, dass Geschäfte nur innerhalb der Familie vererbt werden konnten. »Das heißt aber nicht, dass ich auf der Strecke keine Vertreter einsetzen kann, Männer, denen ich vertraue.«
Avram sollte als Hadadezers Repräsentant an der Stätte der Ewigen Quelle fungieren. Die anderen vier Vertreter waren die Söhne der Frau, mit der Hadadezer viele Jahre zusammengelebt hatte. Hadadezer vertraute diesen jungen Männern, denn sie liebten und achteten ihn und würden seine Geschäfte ehrlich führen. Ihre Bestimmungsorte waren das Land der Lebonah-Bäume, die Küste des Großen Meeres, das Nildelta und eine blühende, rasch wachsende Ansiedlung am südlichen Nil. Hadadezer bot seinen Gästen Geschenke an, und Avram wählte die seinen mit Bedacht aus: Diese Gaben sollten der erste Schritt zur Versöhnung mit Parthalan, Reina und Marit sein. Als Gegengabe erhielt Hadadezer von Avram den Eisbären aus Bernstein, über den er sich wie ein Kind freute.
Am Morgen ihrer Abreise sah Avram zu seiner Verwunderung, dass Esel mit Lasten beladen wurden. Obwohl das Volk des Rentiers ihre Rentiere und Hunde so weit gezähmt hatten, dass sie Milch gaben oder Schlitten zogen, hatten sie doch nie versucht, sie als Lasttiere einzusetzen. »Aber es gibt Grenzen«, warnte Hadadezer.
»Behandelt die Esel gut, füttert sie ordentlich, und sie werden eure Lasten tragen. Versucht aber nicht, euch auf sie
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