Kristall der Träume
Mundwinkel hingen herab. »Ich wusste, dass du lebst, Avram. Jeder meinte, du seist tot, aber in meinem Herzen wusste ich, was mit dir geschehen war. Du hast uns zusammen gesehen, Yubal und mich.
Du bist aufgewacht, hast uns gesehen und bist davongestürzt. Ich habe tagelang und wochenlang auf dich gewartet, und als du nicht zurückkamst, wurde mir klar, dass du weggelaufen bist und warum.«
»Ich hatte jedes Recht dazu«, empörte er sich. »Du hattest überhaupt kein Recht! Du warst auf Yubal und mich eifersüchtig, ohne zu wissen, was passiert war. Du hast falsche Schlüsse gezogen und uns beide verurteilt. Du hast gedacht, Yubal und ich vergnügten uns miteinander.«
»Das konnte ich sehen.«
»Avram, hattest du einen Sonnenstich? Wenn du nur einen Moment länger gewartet hättest, hättest du gesehen, wie ich mich aus Yubals Armen losgekämpft habe, und hättest hören können, wie er mich beim Namen deiner Mutter rief. Du hättest sehen können, wie er sich für sein Versehen entschuldigt hat, wie er zu seinem Bett zurückging, wie er sich an den Kopf fasste und zu Boden stürzte.
Hattest du denn gar kein Vertrauen zu uns? Zu deinem Abba und zu deiner Geliebten?« Er blinzelte fassungslos. »Ich dachte…«
»Das ist dein Problem! Du denkst zu viel!« Ärgerlich wischte sie sich eine Träne fort. Er starrte sie wortlos an.
»Danach wollte kein Mann mehr bei mir liegen. Ich wurde zu einer Unberührbaren, weil alle dachten, ich sei verflucht und ließe Männer tot umfallen, wenn sie mich nur berührten. In all den Jahren habe ich nie den Trost einer einzigen liebevollen Umarmung erfahren.«
»Warum hast du nicht allen die Wahrheit gesagt?«, fragte Avram unter Tränen.
»Wie willst du gegen ein Gerücht angehen? Die Leute glauben, was sie glauben wollen, ob es die Wahrheit ist oder nicht. Du doch auf jeden Fall«, schloss sie bitter.
»All die Jahre«, flüsterte er mit heiserer Stimme. »Wie musst du mich gehasst haben.«
»Zuerst schon. Dann empfand ich nur noch Verachtung für dich, aber ich behielt mein Wissen für mich. Wer würde einer fluchbeladenen Frau schon glauben?« Die Hände in die Hüften gestemmt, sah sie ihn herausfordernd an. »Du bist der einzige Mann, mit dem ich geschlafen habe. Und wie ist das mit dir, Avram? Mit wie vielen Frauen hast du dich in diesen zehn Jahren vergnügt?« Wie ein hilfloser Narr stand er vor ihr, während er im Geiste zählte: die Frauen der Federmacher, der Nomaden, der Muschelesser, der Großwildjäger, Frida und Hadadezers Nichten. Marit wandte sich dem Ofen wieder zu und warf noch mehr Heu hinein. »Zehn vergeudete Jahre. Du und ich, wir sind in der Mitte unseres Lebens.
Deine Großmutter wurde zweiundsechzig, das war ein Segen. Keiner lebt so lang. Wir können nur noch auf ein paar Jahre guter Gesundheit hoffen, bevor wir unseren Familien zur Last werden.
Und eine Last werde ich sein, denn die Göttin hat beschlossen, mir Kinder zu versagen. Ich bin unfruchtbar, Avram, und es gibt nichts Undankbareres, als eine unfruchtbare Frau zu versorgen. Jetzt geh.
Bemitleide dich woanders, hier wirst du kein Mitleid finden.«
Er taumelte in die Nacht hinaus, betroffen und verwirrt. Große Göttin, rief es in ihm. Was habe ich getan?
Seine Füße trugen ihn zu dem einzigen Ort, der ihm noch blieb.
Der Schrein der Göttin war kleiner und bescheidener als der, den er erinnerte. Er war nur aus Brettern und Schilf gebaut mit einer angrenzenden Hütte, in der die Priesterin lebte. Wie er von seinen Brüdern erfahren hatte, lebte Reina inzwischen in bitterer Armut, obwohl sie immer noch die Priesterin war. Sie war von den Räubern vergewaltigt worden, das hatte sie verbittert. Dann war auch noch der blaue Kristall verschwunden; und nach den Überfällen, den Missernten und der Heuschreckenplage hatten sich viele Menschen von der Göttin abgewandt. Sie beschuldigten Reina, sie habe die Zeichen falsch gedeutet, und stellten ihre großzügigen Geschenke und Gaben ein. Seither lebte Reina von der Hand in den Mund.
Als Avram vor ihrer Hütte auftauchte, rührte sie gerade in einem Topf mit Grütze, in den sie eine Prise Kräuter streute. Ihr mittlerweile grau gewordenes Haar war immer noch sorgfältig gekämmt und geflochten. Ihre schöne Leinenkleidung hatte sie gegen fleckiges Rehleder eingetauscht, sie wirkte müde und zerschlagen. Avram wusste nicht, was er tun sollte. Er war zu ihr gekommen, um Rat und Trost zu finden und sein Weltbild gerade rücken zu lassen,
Weitere Kostenlose Bücher