Kristina, vergiß nicht
Seiten, ging zum Schrank und öffnete die Tür. An der Innenseite war über die ganze Fläche hin ein Spiegel angebracht.
»Sehen Sie selbst.«
»Schön. Sehr schön«, freute sich Kristina.
»Ihr schwarzes Haar ist ein guter Kontrast. Wirklich sehr schön. Aber wie steht es mit der Länge?« Sie kniete nieder, zog aus dem Kragen ihres Kostüms Stecknadeln, schlug den Saum etwa drei Zentimeter um und steckte ihn fest.
»Schon besser.«
»Würden Sie das von meiner Schwester annehmen?«, fragte Brandy.
»Aber das geht doch nicht . . «, wehrte sich Kristina matt.
»Gut geht das. Ziehen Sie sich um. Sie essen statt meiner Schwester mit mir und Ottie ist zufrieden. Wenn sie sehr zufrieden ist, näht sie Ihnen eben den Saum des Kleides um.«
Ottie war eine Frau von beträchtlichem Umfang. »Na, Gott sei Dank, Kindchen, dass Sie sich des Essens erbarmen. Man weiß ja sonst gar nicht, wozu man hier kocht.«
Die Kohlrouladen schmeckten Kristina sehr gut, aber sie getraute sich nicht, eine zweite Portion zu nehmen. Ottie hatte mit flinken Fingern den Saum umgenäht, noch ehe die beiden mit dem Nachtisch – Zitronencreme mit Sahne – fertig waren. Kristina bedankte sich. Brandy setzte ihre Sportkappe auf und sagte: »Kommen Sie, ich fahre Sie schnell zur Lützmannstraße, damit sie sich zu Hause keine Sorgen machen.«
»Woher wissen Sie, dass ich in der Lützmannstraße wohne?«, fragte Kristina.
»Nun, Ihre Anschrift steht in der Liste. Und ich kenne Ihr Problem, Kristina. Ich habe Verwandte, die drüben leben.«
Die Aula war beinahe gefüllt. Vorn neben der Bühne hatte Herr Schicketanz einige Stuhlreihen aufgestellt. Dort saß der Chor und dort waren auch die Plätze für die Schülerinnen und Schüler, die vorspielen sollten.
Wenn Kristina den Kopf ein wenig drehte, konnte sie ganz hinten in der vorletzten Reihe ihre Eltern sehen. Mutter trug ein elegantes, rotes Kostüm und Janec hatte sich zur Feier des Tages sogar eine Krawatte umgebunden. Großmutter ging es nicht gut. Sie hatte in der Nacht kaum geschlafen. Aber Vaters Rat, vielleicht besser zu Hause zu bleiben, schlug sie aus.
»Ich freue mich darauf, das Kind zu hören. Das wird mir mehr helfen als die beste Medizin.«
In der ersten Reihe hatte die Jury Platz genommen, ausgestattet mit Wertungsblocks und neuen Kugelschreibern, einer Stiftung der Sparkasse. Gleich dahinter saß Hans-Jörgs Anhang, energische, sportliche Männer, elegante Damen mit blitzendem Schmuck an Hals und Händen. Eine schlanke Blondine unbestimmbaren Alters redete auf Hans-Jörg ein, herrisch, erregt. Doch der Junge drehte sich um und setzte sich auf seinen Platz neben Kristina.
»Schau mal«, flüsterte sie, »sie drücken dir die Daumen.«
»Lass mich«, antwortete er.
»Aufgeregt?«, fragte sie.
»Quatsch«, antwortete er kurz angebunden und schaute starr vor sich hin. Er ging zu Doktor Schmuda hinüber und hatte einen kurzen Wortwechsel mit ihm. Kristina hörte nur, wie der Musiklehrer ziemlich barsch zu ihm sagte: »Machen Sie es, machen Sie es. Aber Sie werden ja sehen.«
Kristina fiel es schwer ruhig sitzen zu bleiben. Zunächst spielten die vier Streicher, dann die Pianisten, drei an der Zahl, schließlich die Blechbläser und nach Karla Matz mit der Oboe waren endlich die Flöten an der Reihe.
Zwei Tertianer spielten aus der Händel-Sonate g-Moll das Andante für Blockflöte und Klavier. Gekonnt meisterten sie die schwierigen Passagen, und als sie sich bei einer vergleichsweise einfachen Tonfolge verhedderten, unterbrachen sie ohne die geringste Verlegenheit den Satz und begannen noch einmal. Der freundlich gespendete lange Beifall belohnte sie.
Kristina zitterten die Knie ein wenig, als sie mit der Bach-Sonate begann. Aber das spornte sie nur an während der ersten Takte. Leicht und beschwingt, exakt und genau klangen die warmen Töne ihrer Flöte auf, sicher die Triller, hundertfach geübt und stets zu schönerem Leben erweckt. Als sie die Flöte sinken ließ, schaute sie auf Doktor Schmuda. Der klatschte und nickte ihr zu.
Sie saß bereits wieder auf ihrem Platz und der Beifall dauerte immer noch an. Die Jury tuschelte. In den ausklingenden Beifall hinein erhob sich Hans-Jörg neben ihr und stellte sich an den Notenständer. Er begann mit einem Furioso von schnellen Tönen. Kristina wusste nach den ersten Takten schon, dass er sich im letzten Augenblick für ein anderes Stück entschieden hatte. Das war der letzte schwierige Satz aus der h-Moll-Suite von
Weitere Kostenlose Bücher