Krock & Co.
wieder…
»Weischt no, Anni?« fragte Studer. »Wies albe gsy isch z'Rickebach?« Das Anni nickte und plötzlich begann es zu weinen.
»Eh! Eh!« sagte der Wachtmeister. »Eh, Anni! Wa hescht au? Tue nid eso!« Aber das Schluchzen wollte nicht aufhören. Und Studer seufzte tief, hob die Augen und starrte auf die ersten Sterne, die sich nicht hervortrauten, noch ganz erschreckt vom allzulangen Tag. Das Schluchzen wurde leiser und der Wachtmeister fragte vorsichtig, was denn dem Anni so zu Herzen gehe. Der neue Todesfall? – Eifriges Nicken der Frau, sie konnte noch nicht sprechen, es war, als habe sich dieser Schmerzensausbruch lange schon vorbereitet.
»Er plagt mich so«, sagte die Frau leise. Sie knöpfte den Ärmel überm Handgelenk auf, streifte ihn zurück und zeigte auf zwei Flecke. Sie sahen schwarz aus in der hellen Dämmerung. – Wenn sie nicht alles tue, was der Rechsteiner wolle, so kneife er sie in den Arm.
»Es ist die Krankheit«, sagte das Anni. »Die Krankheit macht ihn so unleidig. Früher war er ein fester Mann – wer hätte gedacht, daß es ihn so packen würde? Ich hab ihn kennengelernt in St. Gallen bei einer Hochzeit. Und wir haben einander gern gehabt. Er kam damals gerade aus Deutschland – ich war Gouvernante in einem Hotel und da frug er mich, ob wir nicht zusammen etwas unternehmen wollten. Ein Hotel aufmachen – irgendwo auf dem Land. In Schwarzenstein sei eins zu verkaufen. Wir waren beide schon gesetzte Leute – aber wir haben uns gern gehabt. Im Anfang ist es ja gut gegangen. Bis er krank geworden ist. Und jetzt ist es nicht zum Aushalten!« Die Frau schwieg und Studer wagte nicht, Fragen zu stellen. Sie hob das Gesicht – ein breites, volles Gesicht mit einer geraden Stirn, die sehr weiß war.
»Im Deutschen?« fragte Studer nach einer Weile. In welcher Stadt denn der Rechsteiner gewesen sei? – Sie erinnere sich nicht mehr, es sei eine Stadt im Badischen gewesen… Ach, meinte die Frau dann, das mit dem Rechsteiner wäre nur halb so schlimm, wenn nicht in letzter Zeit die Geschichte mit dem Otti und die Geschichte mit der Loppacher passiert wäre…
Studer wurde aufmerksam. – Ob sie nicht erzählen wolle?
Es sei da nicht viel zu erzählen. Mit dem Tschinggemeitschi sei das so gewesen: der Rechsteiner (›Der Rechsteiner!‹ sagte die Wirtin, und nicht: ›Mein Mann‹), der Rechsteiner habe das Meitschi beauftragt, seine eigene Frau zu beaufsichtigen. Die Ottilla habe jeden Samstagabend mit allen Rechnungen ans Krankenbett kommen müssen, und sie, die angetraute Frau, habe dabeistehen und sich abkanzeln lassen müssen. – Das sei falsch gemacht worden, und jenes lätz. Und warum man diesem Gast nicht mehr aufgeschrieben habe? – Dann habe der Rechsteiner Kassensturz gemacht und hernach seine Frau aus dem Zimmer gejagt – später sei das Otti meistens mit einem Paket Briefe auf die Post. Und als die Loppacher gekommen sei, habe der Rechsteiner sie zu seiner Sekretärin erkoren. Nachmittagelang habe die Schreibmaschine im Krankenzimmer geklappert, und oftmals auch in der Nacht bis elf Uhr, bis Mitternacht. Kein Gedanke an Schlaf! Und doch habe der Rechsteiner sie nachher noch drei- oder viermal aus dem Bett gesprengt; um fünf Uhr habe sie gleichwohl wieder aufstehen müssen. Studer möge bedenken: vier Kühe im Stall, zwei Rosse für die Kutsche, Schweine, Kleinvieh! Manchmal sei sie heuen gegangen, nur um aus dem Unglückshaus herauszukommen – denn das müsse der Köbu wohl verstehen, seit Jahren habe sie keinen Sonntag, keinen Feiertag mehr gehabt.
Ein kühler Wind kam vom See herauf, die Linde rauschte.
– Ob sie sich wirklich nicht erinnern könne, fragte Studer, in welcher Stadt der Rechsteiner gewohnt habe, bevor er nach St. Gallen gekommen sei? Eine Stadt im Badischen? Sie solle nachdenken!
»Er hat erzählt, daß dort zwei Flüsse zusammenfließen – und dann ist dort eine große Brücke, die die Stadt mit einer andern verbindet. Auch einen Hafen hat die Stadt, einen großen Hafen… Wenn du den Namen sagst, könnt' ich dir sagen, ob er stimmt.«
Der Sommerabend war so still und friedlich, daß man sich zum Denken zwingen mußte.
Zwei Flüsse, ein Hafen, die Rheinbrücke… Die Stadt sollte man kennen? Offenburg? Nein. Karlsruhe? Nein. Und Mainz lag nicht mehr im Badischen…
Studer holte sein längliches Lederetui aus der Tasche, zog den Strohhalm aus der Brissago – aber bevor er ihn anzündete, legte er sein Notizbuch geöffnet auf die
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