Krock & Co.
konnte sich nicht erklären, woher die Frau gekommen war. Denn er saß ganz nahe an der Tür, die in den Gang hinausführte. Doch als er sich weiter im Zimmer umblickte, entdeckte er neben der Balkontüre, an der Wand, die rechtwinklig zu ihr stand, eine Klinke. Also dort war die Tür! Sie war kaum zu sehen, denn sie war von oben bis unten mit der Tapete überzogen, die sich über die Wand spannte. Der Wachtmeister stand auf, drängte sich an der Frau vorbei, drückte die Klinke herab…
Ein zweites Schlafzimmer, aber dunkel, nur in einer Ecke ein winziges Fenster. Ein schmales Eisenbett davor, ein Tisch mit Kamm und Haarbürste. Daneben ein Buch. Studer nahm es in die Hand. Er lächelte. Es war kein Buch, sondern ein Heftli über Kräuterkunde… Es war besser, der Doktor sah es nicht, darum legte es der Wachtmeister mit dem Titelblatt nach unten wieder an seinen Platz und verließ auf den Fußspitzen das Zimmer.
Dann empfahlen sich die beiden Männer von dem Kranken. Studer fand gerade noch Zeit, dem Anni zuzuflüstern, er erwarte es in einer Viertelstunde drunten vor dem Haus. Die Wirtin nickte. Ihr Gesicht war bleich und starr. Und dies war vollauf zu begreifen.
Auf dem Gange erkundigte sich der Wachtmeister, ob es möglich sei, daß das verschwundene Medikament zur Vergiftung des Joachim Krock gedient habe.
»Ich präpariere«, erwiderte der Arzt, »meine Medizinen gewöhnlich selbst. Bei diesen Kügeli hab ich eine Ausnahme gemacht und das Rezept nach Heiden in die Apotheke geschickt. Wissen Sie, Wachtmeister, es waren winzige Zuckerkügeli und jedes enthielt etwa ein tausendstel Gramm von jedem der beiden Gifte. Im ganzen waren es etwa hundert Kügeli. Ein Tausendstel mal hundert gibt bekanntlich ein Zehntel. Und ein zehntel Gramm – es hätte vollauf genügt.«
Studer nickte. Blieb die Frage übrig, wie das Gift dem Joachim Krock beigebracht worden war. Im Essen? – Nein. Sonst hätten sie beide, er und Albert, auch daranglauben müssen…
»Soviel ich weiß, ist das Hyoscin geschmacklos. Und das Atropin?«
»Atropin hat einen ganz schwachen, bitteren Geschmack…«
Bitter?… Hatte der Herr aus St. Gallen etwas Bitteres gegessen?… Bitter! Was gab es Bitteres? – Und plötzlich klatschte sich der Wachtmeister mit der flachen Hand gegen die Stirn.
… Er sieht deutlich ein Bild vor sich: Den Speisesaal, und auf dem Tisch beim Klavier ist für drei Personen gedeckt. Vor jedem Teller steht ein Glas, gefüllt mit einer durchsichtig-braunen Flüssigkeit. »Was ist das?« fragt er die Saaltochter, die heut morgen ihren Feglumpen an seinen schwarzen Sonntagshosen abgewischt hat. »Wermut!« antwortete sie. Am Klavier aber sitzt Herr Joachim Krock und spielt einen Walzer, so langsam und traurig, daß er wie ein Bußlied der Heilsarmee tönt… Ottilla stellt die Suppenschüssel auf den Tisch, tritt neben den Musizierenden und meldet ihm, das Nachtessen sei aufgetragen. Studer steht mit dem Rücken zum Tisch, seine Hände sind beschäftigt. Herr Krock steht auf, er sieht Studer an, sieht den Albert an, ergreift sein gefülltes Glas… »Prost!« – »G'sundheit!« –»G'sundheit!« – Das Klirren der Gläser, einige Tropfen der braunen Flüssigkeit fallen aufs Tischtuch… Suppe. Kalter Braten. Salat. Erdbeeren… In einer Viertelstunde ist das Essen beendet. Herr Joachim Krock steht auf, geht zum Klavier, dessen Deckel er nicht geschlossen hat, so daß die Tasten in der einbrechenden Dunkelheit weiß schimmern. Er setzt sich auf das Drehsesseli… Wankt er nicht? Nein, das ist wohl Täuschung. Denn kräftig fallen seine unbehaarten weißen Hände auf die Tasten… Ein Akkord… Der Trauermarsch von heute morgen…
Und dann liegt der Mann am Boden, krümmt sich. In seinen Mundwinkeln bildet sich Schaum und seine Pupillen sind so groß, daß sie die Iris geschluckt haben… Der Wachtmeister und sein Schwiegersohn tragen den Toten hinauf in sein Zimmer und legen ihn sanft aufs Bett…
»Äksküseeh, Herr Doktr!« murmelte Studer. Er müsse hurtig öppis go luege. Er sprang die Treppen hinab, nahm drei Stufen auf einmal und langte atemlos in der Küche an. Unter der Türe blieb er stehen und überblickte den Raum. Kein Schüttstein… Studer lief am großen Herd vorbei, und vorbei an der mageren Köchin, die ihn erstaunt anstarrte. Da war die Abwaschkammer.
Schmutziges Geschirr: Teller, Schüsseln… Und die Gläser? Da standen sie, alle drei, auf einer Ecke des Tisches, in einem Mauerwinkel, wo es
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