Krock & Co.
drei…
Um mit dem Anni zu beginnen… Schulschatz hin oder her – vor den Toten hatten Gefühlsregungen keine Geltung. Die Toten waren sachlich. War nicht alles Objektive, alles Unpersönliche so recht eine Angelegenheit der Toten? Die Toten nahmen keine Partei – sie waren die Parteilosen an sich. Während alle Lebenden, solange sie wirklich lebten und nicht als Mumien schon durch die Welt stolperten, Partei zu ergreifen hatten… Auf einem Friedhof kam man auf sonderbare Gedanken. Um also mit dem Anni zu beginnen: da war der Brief, in dem sie ihre Aktien zu belehnen verlangte. Jean Stieger hätte das Geld bringen sollen. Damals – am Abend jenes fernen Hochzeitstages – war man aus dem Gebärdenspiel der beiden nicht klug geworden. Aber jetzt, nachdem man den Brief in dem Kräuterbüchli gefunden hatte, konnte man eine Deutung immerhin versuchen.
Die Frau fragt: »Kommen Sie aus St. Gallen? Bringen Sie das Geld?« So angstvoll ist die Frage gestellt, daß der Bursche, der nur eines kann: andern seine Macht zeigen – daß der Jean Stieger natürlich das Bedürfnis fühlt, die Frau zu quälen. Vielleicht sagt er, daß er das Geld nicht geben kann (hat er nicht den Kopf geschüttelt?), ohne vorher die Einwilligung des Ehegatten eingeholt zu haben… Vielleicht, fährt er dann fort (hat er nicht mit dem Finger auf den Tisch gepocht?), können wir zu einer Einigung gelangen. Geben Sie Ihrer Saaltochter morgen frei, ich möchte mir ihr spazieren fahren, mit ihr tanzen gehen – dann können Sie das Geld morgen abend, vor meiner Abreise, haben… »Das kann ich nicht!« antwortet das Anni (die Worte hat man von den Lippen ablesen können). Dann unterbricht die Loppacher das Gespräch – die Folge davon ist, daß Jean Stieger ihr ein so arges Schimpfwort zuruft, daß zwei Menschen an der Hochzeitstafel laut zu reden beginnen, um das Wort zuzudecken…
Anni Rechsteiner aber braucht das Geld. Sie braucht es nicht morgen abend. Sie braucht es heute, heute, am Samstagabend… Wozu?… »Der Rechsteiner hat die Saaltochter beauftragt, mich, seine angetraute Frau, zu beaufsichtigen. Die Ottilia hat jeden Samstag alle Rechnungen ans Krankenbett bringen müssen… Dann hat der Rechsteiner Kassensturz gemacht und mich aus dem Zimmer gejagt…« Wann hatte das Anni diese Geschichte erzählt? – Gestern abend… Vielleicht fehlte seit langem schon Geld? Und es hatte verheimlicht werden können. Aber heute mußte die Rechnung stimmen. Die zweitausend Franken waren notwendig – was kann eine Frau nicht alles tun, wenn sie zur Verzweiflung getrieben wird?… Also das Anni?
Zwei Dinge sprachen dagegen: das Gespräch vom gestrigen Abend – zwar vor den Toten galt es nicht, denn es hing mit dem Gefühl zusammen. Aber die Verwundung von heute morgen, die Schlafmittelvergiftung ließ alles in anderem Licht erscheinen…
Die Loppacher? Als einziges Motiv konnte man das Wort gelten lassen, das ihr der Jean Stieger zugerufen hatte. Sonst noch etwas? Ja. Warum hatte sie gestern nacht einen stumpfen Nagel in den Schraubstock gespannt und begonnen, daran herumzufeilen? Sie hatte sich nicht einmal ganz ungeschickt angestellt…
Aber sehr vieles schien sie freizusprechen. Es war undenkbar, daß der Mörder sich nicht irgendwo mit Blut besudelt hatte… Nun hatte sich zwar die Loppacher über den Toten geworfen – halt! nein! das stimmte nicht… Neben ihm hatte sie sich auf die Knie geworfen, und dann war sie von Albert zurückgerissen worden:
»Nicht anrühren!«
Und gestern war Studer dabeigewesen, als die Behörde das Zimmer der Jungfrau durchsucht hatte. Alles war noch dagewesen: das pelzverbrämte Kleid, die weißen Strümpfe, die hellen Schuhe… auf keinem dieser Kleidungsstücke war auch nur eine Spur von Blut zu entdecken gewesen – Studer hatte selbst nachkontrolliert…
Warum, warum hatte es dieses Tippfräulein so eilig gehabt, in die Werkstatt des Velohändlers überzusiedeln? Sie waren ineinander verliebt, diese beiden. War das, um sachlich-wissenschaftlich zu reden, ein stichhaltiger Grund für die Übersiedelung? Studer hatte gehört, wie der Ernst Graf, bevor er abgeführt worden war, der bemalten Jungfer zugeflüstert hatte: »Gib auf meine Tiere acht!« Und sie hatte den Wunsch erfüllt, war aus ihrem eleganten Hotelzimmer hinübergezogen in die staubige Werkstatt, hatte sich ein Bett geben lassen und wohnte nun dort – ohne Komfort, ohne fließendes Wasser, ohne Bad, ohne Schminke und Puder…. Aber waren
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