Krock & Co.
Betreten haben das Zimmer: Der Bruder des verhafteten Velohändlers, Martha Loppacher, die Wirtin, die Ottilia, der Arzt, Joachim Krock. Wenn wirklich des Rechsteiners Mittel gegen den Nachtschweiß verwendet worden ist – dann ist einer dieser sechs der Schuldige. Einem von diesen muß daran gelegen sein, den Wachtmeister aus der Welt zu schaffen. Der Rechsteiner zählt nicht mit, denn er ist gelähmt…
Eigentlich, wenn man darüber nachdachte, war diese Lähmung sonderbar. Studer erinnerte sich dunkel, daß bei den Endzuständen der Auszehrung eine große Schwäche auftrat – aber eine Lähmung? Item, der Rechsteiner war gelähmt. Das Anni hatte es behauptet, der Doktor Salvisberg hatte es bestätigt…
Von den sechs Personen, die den kranken Wirt besucht hatten, von den sechs Menschen, die die Pillenschachtel hätten entwenden können, waren auszuschalten vier: Der Arzt, die Ottilia, die Wirtin, Joachim Krock.
»Ja, grinset ihr nur in euren Gräbern!« murmelte Studer. Denn es war ihm, als machten sich die Toten lustig über ihn. Und er sprach weiter zu ihnen, den Sachlichen, die keine Partei ergriffen. »Ich weiß wohl, daß es nur gefühlsmäßige Erwägungen sind, die mich die vier ausschalten lassen. Gefühlsmäßig? Doch nicht ganz! Beobachtungen des Mienenspiels, sind das nicht auch sachliche Erwägungen?… Gut, nach diesen Erwägungen schalte ich vier aus. Und auf Grund der gleichen Erwägung schalte ich noch einen fünften aus: den Bruder. Hell war sein Gesicht beschienen von der Lampe, die über der Werkbank hängt – und es war ein armes, gequältes Gesicht… Ein Mann, der nicht reden kann, nur stakeln, weil der Vater ihn so verprügelt hat, daß ihm die Angst in den Körper gepflanzt worden ist. Warum hätte der Fritz mich umbringen wollen? Er kannte mich nicht. Vielleicht hat man ihm erzählt, ich glaube an die Unschuld seines Bruders – ganz sicher hat man ihm das erzählt! – und da hätte er mir Gift in den Wermut schütten sollen? Niemand hat ihn gesehen in den Speisesaal schleichen… Also?…
Bleibt Martha Loppacher. Joachim Krock hat seine Bürolistin eine Gans genannt. Vielleicht habe ich das Mädchen unterschätzt? Vielleicht ist sie viel geriebener, als ich gedacht habe? Sie konnte, ohne daß es irgend jemandem auffiel, den Speisesaal betreten, den ›Wormet‹ vergiften und wieder verschwinden. Halt! Noch etwas belastet sie. Vier Wochen lang hat sie volle Pension genommen – das heißt, sie hat morgens, mittags und abends im Speisesaal gegessen. Sie hat gewußt, wo der Schnaps steht… Und ausgerechnet am gestrigen Abend bleibt sie aus – wo hat sie zu Nacht gegessen? Beim Fritz Graf?«
Studer schüttelte den Kopf – und doch! und doch! etwas stimmte da nicht. Wenn auch alle ›Indizien‹ auf die Loppacher hinwiesen – die logische Schlußfolgerung knirschte wie zwei Metalle, die ineinander passen sollten.
Da sind zuerst die leeren Enveloppen in der Revolvertasche des Jean Stieger. Was für einen Zweck hat es gehabt, die Briefe zu nehmen und die Umschläge zurückzulassen? – Halt! gehörte dies nicht in dieselbe Kategorie wie die stählerne Radspeiche, an der ein Hundehaar klebt? Sie war verwendet worden, um den Verdacht auf den Velohändler zu lenken. Das stand einigermaßen fest. Wie aber, wenn der ›Täter‹ die Umschläge nur deshalb zurückgelassen hätte, um demjenigen, der den Fall bearbeitete, einen kleinen Wink zu geben: »Siehst du, alle zwei Tage hat die Loppacher nach St. Gallen geschrieben! Kommt dir das nicht verdächtig vor? Aus den Ferien schreibt man doch nicht so oft! Selbst wenn eine Frau verliebt ist! So dicke Briefe! Geschäftsbriefe? Dann müssen es dunkle Geschäfte sein!«
Zwischen zwölf Uhr nachts und vier Uhr morgens hatte sich jemand in den Vorkeller geschlichen, um die Briefe zu entwenden – nach Aussage der Loppacher waren es nur die Kopien der vom Wirte Rechsteiner in die Schreibmaschine diktierten Briefe – aber die Jungfer hatte gerade so gut lügen können…
Gruppieren! Man mußte die Tatsachen gruppieren!
Nach Aussage der Köchin spukte es im Hotel ›zum Hirschen‹. Vom Keller bis zum Estrich schlich in den Nächten stöhnend ein Gespenst. Wenn man als aufgeklärter Fahnder nun nicht an Gespenster glaubte, so konnte man die Behauptung der Köchin dennoch nicht in den Wind schlagen. Ein wenig anders formuliert, würde sie lauten: ein Fremder schleicht im Hotel herum, er sucht etwas, und zum Suchen gebraucht er die Nächte…
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