Krock & Co.
Dieser Fremde also ist es gewesen, der die Briefe an sich genommen hat. Also müßten sie gefährliche Angaben enthalten haben. Der Fremde kann sich nicht ohne Mitwisser im Hotel aufhalten – er muß wenigstens einen Helfer haben. Einen Helfer… Warum ein Maskulinum?… Konnte es nicht gerade so gut eine Helferin sein?
Wer kam in Betracht? Nur die Ottilia. Die Ottilia Buffatto, um die man sich gar nicht gekümmert hatte und die dennoch eine Hauptrolle zu spielen schien. War es eine alltägliche Sache, daß eine Saaltochter sich auf Autolenken verstand? War es alltäglich, daß eine Saaltochter, eine ausländische noch dazu, größeres Vertrauen genoß als die angetraute Frau? Wie kam es, daß ein Pariser Bankier – ein gelähmter überdies – mitten in der Nacht einen Dienstboten in einem unbekannten Hotel anläutete und daß besagter Dienstbote dann ein verlassenes Auto nahm, nach Rorschach fuhr und zu Fuß wieder heimlief? Wie kam es, daß dieses Tschinggemeitschi Verbindung mit der internationalen Hochfinanz hatte?
Studer kannte sich in Paris aus, der Name Gardiny war ihm geläufig. Um den Namen Gardiny spann sich ein Kranz von Sagen. – Er hatte eine holländische, eine belgische und eine französische Bank unter einen Hut gebracht, den Aufbau der durch den Krieg zerstörten Gebiete finanziert, die deutsche Inflation ins Gleiten gebracht und dann aufgehalten, und schließlich mehreren deutschen Städten Kredite verschafft. …Deutschen Städten, besonders solchen, die nach dem Krieg von Frankreich besetzt worden waren. Ludwigshafen, Mannheim…
Mannheim!
Wem hatte Joachim Krock am Nachmittag vor seinem Tode geschrieben? Dem Polizeipräsidenten von Mannheim…
Wo hatte der Rechsteiner sein Vermögen verdient?
In Mannheim.
Was hatte man auf der Löschblattunterlage entziffern können (außer dem Namen der Stadt?).
›Checkfälschung‹ Eine Ziffer: ›30000‹ oder ›50000‹ Und eine Jahreszahl, deren letzte Ziffer nicht genau zu erkennen war: eine 4 oder eine 7 – konnte es nicht auch eine 1 sein?
Vor zehn Jahren hatte der Rechsteiner das Ibach Anni geheiratet. Vor zehn Jahren: 1921. Damals begann die Inflation in Deutschland. Damals galt ein Schweizerfranken zwanzig Mark. Später kletterte das deutsche Geld in die Billionen hinauf… Nein, es war kein Klettern, es war ein Stürzen ins Bodenlose… Und vor drei Jahren war der Rechsteiner zur Kur ins Südtirol gefahren… Warum ins Südtirol? Gab es in der Schweiz nicht Leysin, Davos und Arosa – Stätten, in denen die Lungensanatorien so dicht beieinander standen wie auf der Basler Messe die Jahrmarktsbuden? Warum war der Rechsteiner nicht in einen Schweizer Kurort gefahren? Nein! Ausgerechnet nach Südtirol. Und allein! Für das Alleinfahren hatte er eine gute Ausrede gehabt – seine Frau mußte das Hotel während seiner Abwesenheit führen…
»E Lugi isch es gsy!« sagte der Wachtmeister laut, und er dachte dabei an die Briefe, die ihm die Loppacher gezeigt hatte. »En elende Lugi!« Nein! Der Rechsteiner brauchte nicht tausend, zweitausend, dreitausend Franken… Die Briefe waren gefälscht – mit Wissen und Willen des Rechsteiners gefälscht! Gefälscht – um ihn, den Berner Fahnder irrezuführen!…
Vom Turme der Kirche schlug es sechs Uhr, als Studer den zerkauten Rest seiner Brissago über die Friedhofsmauer warf. Ein paar Schritte nur – dann stand er wieder, breit und ruhig, vor dem Schalter und verlangte zwei Telegrammformulare. Er sah die neugierig glänzenden Augen der jungen Posthalterin – und er lächelte. Er trat vor ein Stehpult, zog seine Brieftasche. Aber dem ›Wybervolch‹, dem neugierigen, entging sein Tun. Studers breiter Rücken war ein ausgezeichneter Paravent.
Und des Wachtmeisters Lächeln verstärkte sich noch, als er die beiden Telegramme durch den Schalter gab. Zwar die Adressen waren ohne weiteres verständlich: »Polizeipräsidium Mannheim« und »Madelin Police judiciaire Paris«. Aber die nachfolgenden Wörter und Buchstaben ließen viel ratlose Enttäuschung auf dem Gesicht des Frauenzimmers entstehen.
»Wrdasi ptamtschisky wontzürabei igbalsgar yolutzibrasch.«
»Was heißt das?« fragte die Pöstlerin.
»Polkod!« antwortete Studer, und seine mächtigen Achseln hoben sich. »Ihr wisset nicht, was Polkod ist? Polizeikode… Unsere internationale Geheimschrift. Damit nicht jeder hinter unsere Geheimnisse kommen kann. Und schicked die Telegramme gleich ab, Priorität, verstanden? Bezahlte
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