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Kruzifix

Kruzifix

Titel: Kruzifix Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Xaver Maria Gwaltinger
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Schmerzen.
    Das ist der Schock!
    Ich konnte meine rechte Hand spüren. Die Finger bewegen.
    Die linke. Spüren. Finger bewegen.
    Kopf abtasten.
    Trocken. Kein Blut.
    Ich zwicke meinen Hintern zusammen.
    Oh Gott, nicht querschnittsgelähmt. Wenigstens nicht bis zum Arsch.
    Ich zog meine Beine hoch. Ging auch.
    Ich bewegte meine Knöchel.
    Ich spürte meine Zehen.
    Ich sackte wieder auf den Boden.
    Ich heulte hemmungslos wie ein kleines Kind.
    Jesus wept.
    Die Tränen ebbten ab.
    Die Flut kam.
    Die Flut von Wut.
    Ich rappelte mich auf.
    Ich schrie aus voller Lunge:
    »Du Sau, wo bist du! Ich bring dich um! Ich bring dich um!«
    Sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund.
    Ich schrie es wie eine wilde Litanei:
    »Ich bring dich um! Ich bring dich um, du Sau, du dreckige! Ich bring dich um!«
    Wenn ich nicht geschrien hätte, wäre ich geplatzt. Hätte eine Hirnblutung erlitten. Wie meine Mutter. Die Stammganglien.
    Sie war nicht in einer dunklen Kirche von einem schwingenden Kruzifix gefallen. Mit fünfundachtzig fällt man nicht mehr so tief.
    Sie lag im Pflegeheim.
    Mit eingebluteten Stammganglien.
    Gut, dass sie nicht wusste, was ich hier anstellte.
    Aber sie wusste ohnehin nichts mehr.
    Endlich sorgenfrei.
    Hoffte ich.
    Die Tür ging auf, der Messner Adolf stand da, schaltete das Licht an:
    »Was ist denn los? Was plärren Sie denn so?«
    »Ich bring dich um, du scheinheilige Sau, du scheinheilige! Hast du mir die Leiter unterm Arsch weggestoßen?!«
    »Was, wie?«
    »So eine Sau hat mich umbringen wollen. Ich häng da oben am Kruzifix und der stößt mir die Leiter weg!«
    »Was haben S’ denn da oben wollen, am Kruzifix?«
    »Mich aufhängen!«
    »Nein! So wie der Pfarrer. Das geht doch …«
    »Hast du die Leiter weggestoßen?«
    Ich war so wütend, dass ich unbemerkt zum Du übergegangen war.
    »Du hast an Vogel hast du!«
    Er war auch beim Du.
    Vertrauensvoll.
    »Ich war beim Fernsehen, neben meiner Frau gesessen. Frag s’ doch. Bis ich das Geplärre aus der Kirche gehört hab. War lauter als die ›Tagesschau‹. Dann hab ich mir gedacht: Jetzt schaust einmal, was da los ist.«
    Er legte die Leiter wieder zusammen, das Aludreieck wurde eine Gerade.
    Er sagte:
    »Zum Glück hat es der Leiter nichts gemacht. Nicht ein Kratzer!«
    Allgäuer Trost. Nichts für Wehleidige.
    Ich fasste mit an.
    »Da nauf auf die Empore«, sagte er.
    »Ich weiß«, sagte ich.
    Er war nur ein Strich in der Landschaft, er packte die Leiter, aber er schaffte es kaum. Ich packte die Leiter, stemmte sie auf die Empore, warf sie hin, dass es schepperte. Tat das gut!
    »Hast du eine Idee, wer mir da die Leiter unter den Füßen wegzieht?«
    »Keine Ahnung. Vielleicht hast du es dir nur eingebildet.«
    »Ich hab mir nicht eingebildet, dass ich da oben häng. Ohne Leiter. Es war wer.«
    »Ich war bei meiner Alten gesessen.«
    »Schon recht. Ich geh jetzt wieder«, sagte ich.
    Die Kirchentür knarrte. Im Rahmen stand eine junge Frau, schimpfte: »Wann kommst jetzt endlich? Das Essen wird ja kalt.«
    Blond. Füllig. Sexy.
    Der Adolf sagte unwirsch:
    »Meine Frau, die Johanna …«
    Ich sagte: »Entschuldigen Sie, ich halt Ihren Mann vom Essen ab. Ich bin schon weg.«
    Sie schaute mich einen Augenblick misstrauisch an, sagte nichts, verschwand wieder.
    Schade.
    Adolf hob den Strick vom Boden auf.
    »Da, der Strick. Vergiss ihn nicht. Wär schad drum.«
    »Ja, dankschön. Kann man immer brauchen.«
    »Pfüad Gott.«
    »Pfüad di!«
    Da stand ich. Zwischen den Gräbern vor der Kirche mit meinem Kälberstrick in der Hand.
    Die Knie zitterten.
    Die Luft schlug zu wie nach einer Sauferei in der Wirtschaft, wenn man hinaus in die klare Nacht tritt.
    Als ich noch jung war, Junglehrer, gab es einen Betriebsausflug zum Oktoberfest. Den Nachmittag im Zelt durchsaufen, den Abend weiter, bis sie dichtmachten – und dann die frische Luft wie ein Hammer. Ich schlief auf einer Bank im S-Bahnhof ein. Versäumte einen Zug. Nickte wieder ein. Versäumte den nächsten. Den letzten kriegte ich. Endstation. Park and Ride. Ich ans Steuer. Zu besoffen zum Gehen. Mit Schwung in die Tiefgarage. Hops. Was war denn das? Wer hat da gegen meinen VW Käfer getreten? Kotflügel im Arsch.
    So viel zum Segen der frischen Luft.
    Ich wankte auf meinen zittrigen Knien aus dem Friedhof hinaus. Meine verheulten Augen sahen das Neonlicht im »Schwarzen Adler«.
    Ich bin das Licht der Welt.
    Stimmt.
    Wer mir nachfolgt, wird nicht im Dunkeln wandeln, sondern das Licht des

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