Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kruzifix

Kruzifix

Titel: Kruzifix Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Xaver Maria Gwaltinger
Vom Netzwerk:
ich noch einen Marathon gelaufen. War das mein letzter gewesen?
    Auf einmal erfasste mich die Panik.
    Wenn ich da runterspring und spring mir die Fußgelenke kaputt – dann ist’s aus mit Marathon.
    Dann war der letzte Marathon im April wirklich mein letzter Marathon gewesen. Endlauf.
    Angst und Wut stiegen in mir auf.
    Als wäre der Marathon mein Leben.
    War er auch.
    Ohne die Marathons mit den Füßen hätte ich die Marathons im Kopf nicht geschafft.
    Die Promotion. Sechs Jahre Marathon. Jeden Tag zwei Stunden für die Dissertation abzwacken, dann für das Rigorosum. Zehn Jahre Analyse-Ausbildung. Ungezählte, aber dafür hochbezahlte Stunden auf der Couch. Oh Gott, war das weich. Ich wollte, ich hätte eine Couch unter mir!
    Ich zwang mich aus der Wutnostalgie heraus.
    Denk!, herrschte ich mich an.
    Ich dachte:
    Ich muss von unten nach oben denken.
    Unten steht ein Mensch.
    Der Priester. Der Durchschnittspriester.
    Eins achtzig groß. Sagen wir zwei Meter. Mit Aura.
    Das Kruzifix muss mindestens so hoch hängen, dass er sich die geweihte Birne nicht anstößt wie ein Lastwagen in der Unterführung.
    Sagen wir zwei Meter fünfzig.
    Vom Ende vom Kreuz bis zu den Christusfüßen, die auf einem kleinen Podest standen, auf dem ich jetzt auch stand, vielleicht noch mal ein halber Meter.
    Macht drei Meter.
    Ich sah vor mir ein Drei-Meter-Sprungbrett im Freibad.
    Die Mutprobe als Bub im Augsburger Familienbad: Trau ich mich, kopfüber vom Dreier ins Wasser zu springen?
    Die weniger Mutigen machten eine Arschbombe.
    Die Mutigen einen Hecht.
    Was mach ich jetzt?
    Ich muss mich so weit nach unten hieven, wie es irgendwie geht, dann loslassen und mit den Beinen abfedern und sofort abrollen.
    Ob die Bewegung noch drin ist?
    Kann der Körper einen Bewegungsablauf fünfzig Jahre lang und länger speichern? Ja, kann er. Schwimmen verlernt man nicht. Radfahren verlernt man nicht. Vögeln verlernt man nicht.
    Das mit dem Vögeln, dachte ich, hätte ich nicht denken müssen, sorry, Christus, ich bin ja schon wieder brav. Wenn ich ein braver Bub bin, rettest du mich, oder nicht?
    Scheiße, was die Angst aus einem macht. Ein betendes Äffchen. Brav. Ich will’s nie wieder tun. Ich wurde wütend auf Christus, konnte es mir aber nicht wirklich leisten.
    Der Konflikt ist für die Couch.
    Jetzt geht’s ums Überleben!
    Denk!
    Ich dachte: Drei Meter plus x vom Fußende vom Kreuz bis zum Boden. Ich häng aber an den Füßen, die mindestens fünfzig Zentimeter oberhalb vom Fußende sind. Also drei Meter fünfzig. Ich bin eins fünfundsiebzig groß. Inzwischen vielleicht eins vierundsiebzig oder eins dreiundsiebzig wegen des Alters und der vielen Marathons. Sagen wir eins siebzig. Drei fuchzig minus eins siebzig wäre die Fallhöhe. Ich war schon immer schwach im Kopfrechnen gewesen. Jetzt konnte ich nicht einmal die Finger zu Hilfe nehmen.
    Drei fuchzig minus ein Meter ist zwei fuchzig. Minus siebzig Zentimeter ist – ist weniger als zwei Meter.
    Sagen wir: knappe zwei Meter.
    Das ist wenig!
    Das ist machbar!
    Eine Mauer von knapp zwei Metern – früher hätte ich es locker geschafft. Da war ich auch noch ein Dutzend Kilo leichter und ein paar Jahrzehnte frischer.
    Ich ließ mich langsam hinab.
    Ich hing mit den Händen an den Zehen vom Christus. Zum Glück steckten große Nägel in seinen Füßen. Ich griff danach. Sie waren besser zum Festhalten als die Zehen. Wie praktisch.
    Die Nägel waren der tiefstmögliche Punkt.
    Ich musste mich an den Nägeln festhalten.
    Ein paar Sekunden.
    Mehr ging nicht.
    Ich hielt mich an den Nägeln fest.
    Ein paar Sekunden.
    Swing … swing … swing …
    Jetzt!
    Ich machte mich lang, so lang ich mit meinen kurzen eins dreiundsiebzig bis eins fünfundsiebzig konnte, damit der Abstand zwischen meinen Zehen und dem Steinboden so klein wie möglich wurde.
    Es war inzwischen so finster, dass ich den Steinboden nicht mehr sah.
    Ich musste ins Schwarze springen.
    Ich musste mich fallen lassen, und bei der allerersten Bodenberührung, ja schon vorher, voll gespannt sein, um den Fall abzufedern und ins Abrollen zu wechseln.
    Ich musste sein wie ein Bub mit zwölf oder dreizehn beim Baden und beim Fußballen.
    Ja, ich war ein Bub. Einer mit sooo viel Angst.
    »Lieber Gott! … Noch einmal … nur noch einmal … bittschön!«
    Ich ließ los.
    Ich fiel nur einen Augenblick durch eine Ewigkeit.
    Loslassen,
    fallen,
    aufkommen,
    abrollen.
    Dann lag ich in der Nacht auf dem Steinboden der Kirche von Tal.
    Keine

Weitere Kostenlose Bücher