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Kruzifix

Kruzifix

Titel: Kruzifix Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Xaver Maria Gwaltinger
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wollten hier nichts miteinander zu tun haben. Nicht hier. Nicht öffentlich.
    Eine kleine Wölbung von Bauchspeck zeichnete sich unter ihrem Busen ab, schade, und ich schaute vergleichend auf ihre Mutter, mit der sie gekommen war, ebenfalls eine faszinierende Frau. Diese Mutter, die ich so unauffällig wie möglich beschaute, hatte eine Frisur der fünfziger Jahre, die Dauerwellen relativ streng nach hinten gelegt, freie Stirn, strenge Miene. Sie war unglaublich dick, aber so vorteilhaft gekleidet, dass es nicht sofort auffiel. Sie war ungefähr dreimal so viel wie ihre hübsche Tochter Johanna, mit der ich nach drei Bieren doch versuchte zu flirten, aber ich hatte keine Chance. Sie zog es vor, mich nicht wahrzunehmen. Mensch, dachte ich, wenn die wird wie ihre Mutter, eine eingeschnürte Blut- und Leberwurst, oder noch treffender: ein riesiger Rollbraten, dann gnade ihr Gott.
    Ich schätzte die Tochter Johanna auf ungefähr fünfunddreißig. Sie lachte, und ich sah ihre Zähne blitzen, die noch vollständig und regelmäßig im Zahnfleisch saßen, aber der Zahnfleischansatz war eine kleine Spur zu hoch, sie war sicher über fünfunddreißig, sie hätte nicht lachen sollen. Es war auch das einzige Mal, dass sie lachte. Johanna schaute wahnsinnig angespannt drein und ging alle fünf Minuten mit einem anderen Mann, den sie kannte, es kannten sowieso alle alle, raus, um eine Zigarette zu rauchen. In dem Zustand. Schwanger. Sie rauchte eine Supermarktmarke, eine Billigsorte, und sie hatte auch etwas von Billig an sich. Einmal sah ich sie mit Toni eine rauchen, Toni mit dem Pferdeschwanz. Sie stand unter Strom.
    Den ganzen Nachmittag hatten Frauen aus dem Dorf riesige Torten angeschleppt, wahrscheinlich musste jede Frau im Dorf mindestens eine Torte liefern, und keine lässt sich da lumpen, sodass eine Tortenburg zusammengekommen war, die nun abgefressen wurde. Und das war ja nur die Nachspeise, vorher gab’s auch was Ordentliches, »ein leerer Sack steht nicht«, und ich beobachtete, wie sich Alt und Jung Berge von Kartoffelsalat und Bockwurst oder Schweinenackensteak hineinschoben und konnte nicht begreifen, wie junge Mädchen ihre Figur auf diese Weise kaputtfressen können, bis sie dastehen wie dralle abgebundene Säcke. Von nix kommt nix! Der Anblick fetter Leiber beiderlei Geschlechts motivierte mich, nach meiner Steaksemmel bei der Flüssignahrung zu bleiben.
    Es wurde ohne Unterlass gegrillt. Der Grill stand in einer Ecke vom Zelt, durch die der Wind blies, aber der Wind blies den Rauch nicht raus, sondern rein, sodass nach einer Stunde Mensch und Fleisch gleichermaßen gegrillt und geräuchert waren. Einer hatte dann die Idee, den Grill hinauszustellen.
    Ich sehe ein Mädchen und denke sofort: Lolita. Sie könnte das Titelblatt eines Mode- oder Sexmagazins zieren. Sie ist vielleicht neun oder zehn Jährchen jung, dünn, noch ein Mädchen, läuft wie ein Mädchen, aber ist doch schon ganz verführerische Eva, oder vielmehr Lilith, die biblische Erotik-Version der hausfraulichen Eva, ich kann sie nicht beschreiben, ich glaube, ich habe noch nie so eine »Lolita« gesehen. Sie sagt zu Johanna »Mama«. Ah so! Sie hat auch schon ein Gespür fürs Geschäft, sie weiß es nur noch nicht.
    Unter den Buben, die im Konfirmandenalter sind, ist einer mit herausragend männlichen Zügen, Beatles-Frisur, ein Alain-Delon-Jean-Paul-Belmondo-Typ, Grübchen in den Wangen, was das Männliche seiner Gesichtszüge noch unterstreicht, genau den kneift sie von hinten ins Kreuz, und er dreht sich um und die beiden balgen miteinander. Er spricht den Toni mit »Papa« an. Heilige Familie!
    Am eindrucksvollsten fand ich die Dirigenten, die Profis wie die Laien. Die Laiendirigenten waren Geburtstagskinder, sie durften einen Marsch dirigieren, und sie durften dazu nicht Nein sagen, der öffentliche Druck war zu groß. Der latente Sinn des Laiendirigierens wurde bald manifest: einen Marsch dirigieren heißt, eine Runde Bier spendieren. Und so schleppten die Geburtstagsdirigenten nach ihren Einsätzen volle Maßkrüge im Dutzend auf die Bühne.
    Dirigieren sieht einfach aus, aber man sah, dass sie es nicht konnten, die Geburtstagsdirigenten. Auch den Messner Adolf zerrten sie hinauf, er hatte vor Kurzem Geburtstag gehabt, vermutlich seinen letzten. Er stand wie ein verkleidetes Gerippe da oben, Hände tot, Arme tot, Körper tot, nur die rechte Hand zuckte mit dem Dirigentenstab unbeholfen im Viervierteltakt. Den Takt bestimmte der

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