Kruzifix
Der war nicht schwul. Als Frau weiß man so was.«
»Ja, da können S’ recht haben.«
Wir schwiegen.
»Was macht eigentlich Ihr Mann, der Toni?«
»Warum? Wie?«
»Ich mein beruflich.«
»Er war Metzger. Aber da geht nix mehr. Er macht hier und da was. Hilft beim Heuen und bei der Ernte.«
»Ach, kann der auch die Heumaschinen fahren, die schweren?«
»Ja, das können alle hier. Auch die Frauen. So was lernt man von Kindheit auf.«
»Ist er gestern Nacht auch zum Heuen gefahren?«
»Weiß ich nicht. Kann schon sein.«
Schweigen.
Ich sagte:
»Er ist ja nicht sehr religiös, der Toni.«
»Nein, ist er nicht. Er sagt, zum Glauben braucht man keine Kirche.«
»Und die Geistlichen sind für ihn Kinderficker und Kuttenbrunzer.«
»Woher wissen Sie das?«
»Stammtisch.«
»Ach, am Stammtisch wird vieles geredet.«
Draußen hörte man Gerumpel und lautes Lallen.
»Oh, kommt er schon, der Toni?«
Das Rumpeln und Lallen und Fluchen zog am Fenster vorbei durch den Garten.
Ich fragte:
»War’s doch nicht der Toni?«
»Doch, der geht ins Gartenhaus. Er hat da seine … quasi Werkstatt.«
»Arbeitet er noch?«
Sie lachte höhnisch.
»Nein. Entweder er schlaft seinen Rausch aus … oder er holt noch Nachschub fürs Weitersaufen.«
»Geld?«
»Ja.«
»Und er schläft … im Gartenhaus?«
»Ja. Ab und zu. Er schnarcht so. Und jetzt, wo ich schwanger bin, hat er gemeint, ich brauch meinen Schlaf, und da ist er vorübergehend ins Gartenhaus gezogen. Ist ja Sommer.«
»Ah so … Ich geh jetzt wieder. Dank Ihnen fürs Gespräch. Das war sehr nett von Ihnen.«
»Ja, ich hab Ihnen ja nichts sagen können, nichts Neues.«
»Sie nicht«, sagte ich. »Ich weiß genug. Ich weiß alles.«
Sie wurde blass.
»Von wem?«
»Vom Peterle. Hier, er schläft so schön. Jetzt gehört er wieder seiner Mama.«
Sie nahm ihn. Erleichtert.
»Vom Peterle? Haha, dem seine Sprach versteh ja ich oft nicht!«
Sie war sehr erleichtert.
»Pfüad Gott.«
Der Hund schlug wieder an.
Meine Schmerzen waren weg. Ich wusste Bescheid. Ich musste nur noch ein paar Beweise sammeln. Ich liebe Theorien. Manchmal so sehr, dass ich sie mit der Wirklichkeit verwechsle. Deshalb brauchte ich noch mehr Wirklichkeit.
Ein Mordsfest!
Ich machte mich auf nach Mühltal. Großes Fest. Mit Blasmusik. Live. Mal was anderes als immer nur die Oldies von Bayern 1 aus der Dose. Durch den Wald trottete ich eine halbe Stunde bergab, landete am Festplatz.
Mühltal ist für seine Brunnen bekannt, es gibt davon mindestens fünfzehn oder höchstens dreißig, entnahm ich den Multiple-Choice-Fragen, die man auf einem Zettel ankreuzen sollte. Es handelte sich um ein lustiges Quiz für die Festgäste, vor allem die fremden. Die fraglichen Brunnen sprudeln an jeder Ecke im Dorf. Das Wasser quillt aus hohen Säulen aus dem Boden, und es steht auch auf Schildern geschrieben, dass das schon seit Römerzeiten sprudelt und wie das funktioniert – jedenfalls besser als mein Gedächtnis. Ich habe es glatt vergessen.
Damit das in Mühltal nicht wieder passiert, das Vergessen, habe ich mir von der Frau im Dirndl mit dem wichtigen Blick im Gesicht eine Fotokopie mit den Quizfragen erschummelt. Sie organisiert das Quiz auf dem Fest, mit getrennten Fragen für Einheimische und Gäste. Dazu einen Kugelschreiber. »Ich bring ihn gleich zurück«, versprach ich. Natürlich ließ ich ihn mitgehen.
Dann die Preisverleihung. Ich erfahre: Es gibt Menschen, die bereits seit zwanzig oder dreißig Jahren jedes geschlagene Jahr nach Mühltal in Urlaub fahren. Wo sie wohl herkommen? Aus Wanne-Eickel? Unna? Güstrow? Breklum? Husum? Duisburg? Wie schlimm muss es da sein, dass man jährlich nach Mühltal flieht?
Mühltal ist ein verhocktes Dorf mit einem Kirchturm, am Fuße der Gellehöhe, jenes Kamms, der den Grüntensee auf der einen Seite vom Rottachsee auf der anderen Seite trennt. Mühltal besteht vorwiegend aus einer Wegkreuzung, die die Wege nach Oberberg und Lechbruck auseinanderhält. Die Bevölkerung besteht aus zwei Volksgruppen: einerseits aus den Vermietern von Fremdenzimmern und Ferienwohnungen, andererseits aus den Nordlichtern, die die Fremdenzimmer und Ferienwohnungen mieten.
Die Vermietergruppe, also die Ureinwohner, gehört gesammelt zu der Blaskapelle und zu der Jugendblaskapelle, die an jenem Sonntag im Festzelt spielten. Als ich kurz vor sechs Uhr abends von der Gellehöhe her zu Fuß ankam, waren doppelt so viele Bläser am Werk wie Gäste im Zelt.
Das
Weitere Kostenlose Bücher