Kruzifix
für das Kaufhaus des Westens KaDeWe gehören würde, »Kaufhaus«. Es gibt:
Brot.
Semmel.
Butter.
BILD .
Der Rest Konserven. Dosen.
Ich humple hinunter. Der rechte Fuß tut von meinem Abschlag noch weh, aber nichts ist gebrochen. Mein Ohr hat vor Aufregung die Schmerzen eingestellt.
Ich sage:
»Guten Morgen.«
»Guten Morgen.«
Ein alter Mann gibt mir, unendlich langsam, aber bitte, er muss seinen Tag damit füllen:
Zwei Semmeln.
Ein Brot.
Butter.
BILD .
Konserven habe ich selber genug. Früh, Mittag und Abend. BILD brauche ich. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Um zu sehen, dass anderswo auch schlimme Sachen passieren. Anderswo passieren noch schlimmere Sachen.
Ach wär ich doch nur anderswo.
Nein, hier.
Ach, ich habe die Schnauze voll.
Neben der Kirche, am Messnerhaus, steht ein Notarztwagen. Und ein Sanitätswagen.
Lieber Gott, nicht schon wieder!
Ich gehe trotzdem hin.
Eine blonde Frau Mitte dreißig weint.
Johanna.
Johanna weint.
Sanitäter tragen eine Bahre mit einer spitzen Wachsnase in den Wagen.
»Hallo, Adolf.«
Er schaut gläsern.
»Hallo«, sagt er tonlos.
Johanna heult.
»Was ist passiert?«
»Zusammengebrochen ist er. Der Krebs …«
Ich werde von einer jungen forschen Stimme hinterrücks überfallen:
»Ah, die Seelsorge. Immer im Dienst.«
Oh Gott, die geschnappige Notärztin. Nicht schon wieder!
Sie sieht mein Ohr an.
»Nettes Piercing. Schaut gut aus.«
»Ist auch gut gemacht!«
Sie errötet. Alle Achtung, das kann die noch! Wo hat sie das gelernt?
»Bleiben S’ noch ein bisschen bei der Frau? Schock!«
»Klar«, sage ich. »Seelsorge.«
Und sie, leise: »Passen S’ fei auf sich auf!«
Ich: »Und wie! Wie ein Haftelmacher!«
»Haftelwas?«
Oh Gott, was lernen die heutzutage auf der Uni?
Ich denk: Wenn die schon so fürsorglich ist, dann muss es schlecht um mich stehen.
Ich sag: »Basst scho!«
Sie deutet mit dem Kinn auf die weinende Johanna.
»Dankschön, gell.«
Ist sie krank? Hat sie schon wieder ihre Tage? Ist sie schwanger? »Dankschön, gell.«
Das »gell« lässt mich fast erröten.
Kruzifix, so was von intim!
»Bittschön, gern gescheh’n, wo ich grad so vorbeikomm …«
Das stille Blaulicht bringt sie weg. Und die Sanitäter. Und den Prostata-Adolf.
»Machen S’ mir einen Kaffee?«, frage ich die Johanna.
Habe ich bei der Notfallseelsorge gelernt.
Die Leute beschäftigen. Ablenken.
Ich folge ihr in die Stube. Küchenzeile aus den Anfängen von Ikea, eine abgegriffene Eckbank mit Plastikkissen, ein Kasten von einem Fernseher aus der Schwarzweißzeit. Eine Standuhr, altdeutsch, vermutlich vom Quelle-Versand. Hat sie wohl von ihrer abgebundenen Mama geerbt.
Sie scheppert herum, macht Kaffee. Jakobs Krönung. Krönungsmesse. Nein. Nescafé.
Ich sage: »Ich hab frische Semmel.«
Sie sagt: »Ich hab kein Hunger.«
»Klar.«
»Wird wohl zu Ende gehen«, sagt sie.
»Schaut so aus«, sage ich.
»Ist ja nix Neues«, sagt sie.
»Nein. Ich hab ihn erst gestern noch gesehen. In Mühltal. War ganz gut drauf. Sogar dirigiert hat er.«
Dass ich versucht habe, mit ihr zu flirten, lasse ich lieber aus.
»Und vorgestern Abend. Wo ich in der Kirche war, und er mir aufgemacht hat … Ach, sagen S’, Johanna, was hat denn der Adolf gemacht, nachdem er mir aufgesperrt hat?«
»Nix. Wir haben Fernsehen angeschaut.«
»Die ganze Zeit?«
»Ja, wir sind nebeneinander gesessen.«
Sie weint wieder. Wie unter Schock. Merkt nicht, wie ich sie ausfrage. Schluchzt:
»Ich weiß es so genau, weil grad, wie die ›Tagesschau‹ angefangen hat, hat er noch mal mit seinem Handy telefonieren müssen, und ich hab ihn angemault, weil er nicht einmal bei der ›Tagesschau‹ sein blödes Handy ausschalten kann. Hätt’s auch nicht braucht … Das Anmaulen, mein ich.«
Sie weint weiter.
»Und wen hat er angerufen?«
»Keine Ahnung.«
»Was hat er gesagt?«
»Nix … ah … doch … was Komisches. Von einem Vogel.«
»Welchem Vogel?«
»Kiebitz … Ja, jetzt fällt’s mir wieder ein: ›Der Kiebitz ist in der Kirch.‹ Ich hab mich noch gewundert, was ein Kiebitz in der Kirche macht. Aber wir hatten ja auch schon Schwalben, und Raben, und alle möglichen Vögel. Und warum er extra telefonieren muss. Wenn die ›Tagesschau‹ ist. Bloß wegen dem Kiebitz in der Kirche.«
»Und wie die Nachrichten vorbei waren?«
»Da haben wir ›Wetten dass …?‹ angeschaut. Eine Wiederholung. Ist ja Sommer. Lauter Wiederholungen im Fernsehen. Ich hab
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