Kruzifix
»Zelt« war eine ortseigene Erfindung, eigentlich war es im normalen Leben eine große Scheune mit Skilift, aber wackere Zimmerleute hatten einen regendichten Vorbau angezimmert, der die Bühne überdeckte, auf der die Musik mit vierzig oder fünfzig Musikanten spielte. Die Wettervorhersage war schlecht, von Südwesten drohten schwarze Gewitterwolken. Noch schien die Abendsonne.
Wie ich später herausfand, waren auch noch Holländer anwesend, eine Bläsergruppe. Zwei der holländischen Bläser hatte man in Allgäuer Trachten gesteckt: schwarze Lederhosen, weinrote Westen, schwarze Hüte. Fesch! Und zünftig!
Einer der beiden trachtenmäßig naturalisierten Holländer stand neben mir an der Pinkelrinne und erzählte in seinem Kotz-Dialekt, dass er »dat Ding nich rausjebracht« habe, weil er mit dem Knopfverschluss der Lederhose nicht vertraut war, dem sogenannten Hosenladen.
Die Toilette war eine Sehenswürdigkeit für sich, eine Meisterleistung Mühltaler Ingenieurskunst. Es handelte sich um einen Bauwagen, der in der Mitte durch eine Sperrholzwand geteilt war. Sie trennte die »Damen«, die man durch die Wand kichern hörte, von den »Herren«. Die Pinkelvorrichtung war eine gewöhnliche Dachrinne. Für die Hygiene sorgte ein dünnes Wasserrohr über der Rinne, in das alle zwanzig Zentimeter ein Loch gebohrt war, aus dem ein Strahl Wasser rann.
Die Benutzung war gebührenfrei, ja, man wurde für die Benutzung mit einem wunderbar romantischen Blick auf die Alpspitze belohnt, die sich gegenüber von Mühltal hinter dem Grüntensee erhebt: der Stoff für ein Gemälde, mindestens für eine Ansichtskarte. Jedes Mal verweilte ich in Andacht an der Rinne mit Blick auf die Alpspitze, jedes Mal, wenn ich in den »Herren« war, und das war im Laufe des Nachmittags sehr oft, eben so oft, bis ich die fünf oder sechs Halbe Bier wieder in Wasser verwandelt hatte. Das Wasserwunder von Mühltal.
Der Nachschub an Bier war vorzüglich, ich erlebte die erste Bedienung in meinem Leben, die NICHT von der biblischen Augenkrankheit geschlagen war: Sehenden Auges sehen sie nicht. Bedienungen können einen so wunderbar übersehen, egal, wo sie hinschauen. Dieses Mädchen aber, das ich auf achtzehn oder zwanzig schätzte, sah meine durstige Hand diagonal durch das Festzelt, ich hob den Daumen, sie hob den Daumen, nickte mit dem blonden Schopf, und bevor ich meinen Daumen samt Arm wieder eingefahren hatte, stand auch schon eine frische Halbe vor mir.
Das Mädchen war mir aufgefallen, weil ich im ersten Augenblick dachte, sie wäre schwanger. Schwangerer als Johanna und Toni. Ihre Bluse wölbte sich über der Jeans und hätte auch als Umstandskleidchen durchgehen können. Aber dann sah ich, ich schaute so unauffällig ich konnte, dass Wölbungen auch an ihren beiden Hüften hervortraten, was meine Schwangerschaftshypothese erheblich schwächte. Sie war einfach »gut beinander«.
Es waren viele Frauen da, alte und junge, je älter, desto besser frisiert. Der Friseur am Ort musste am Vortag ein Bombengeschäft gemacht haben. Praktisch alle Frauen über dreißig waren frisch frisiert und festlich gekleidet, hatten die »Sonntigshäs« an. Manche fielen durch Dirndl auf, und die Dirndl fielen mir dadurch auf, dass sie pink, orange und grün waren.
Die Männer hatten, sofern sie keine Tracht trugen, die Volkshosen für jedes Alter an, nämlich Jeans. Eine Jeans ist vor allem dazu da, bei noch geschlechtsfähigen Männern jedenfalls, den Hintern einzupacken. Ich brauchte einmal ein ganzes Jahr, um den Spruch eines meiner Patienten zu begreifen, der von seinem Kollegen sagte, auf Fränkisch: »Der hat kaan Oarsch in der Husn.« Keinen Hintern in der Hose. Was bedeutet, dass der Mann keinen Mumm hat. Toni hatte definitiv einen »Oarsch in der Husn«, Adolf, der Messner, definitiv nicht.
Bei Frauen ist die Jeans der BH für den Po, und wenn die Jeans nicht einpackt, was sonst hängen würde, kann jede Frau als Frau einpacken. Die zum Beispiel, die am anderen Ende meiner Bierbank saß, hatte eine gute Jeans, die sie gut einpackte, eine hinsehenswerte Frau, fand jedenfalls ich, mit einer blonden Mähne, einer straffen Jeans, T-Shirt mit einem BH , der das, was sie an Holz vor der Hütt’n hatte, vorteilhaft in Szene setzte.
Ich erkannte sie wieder. Obwohl ich sie vor einer Woche nur einen Augenblick im Türrahmen der Kirche gesehen hatte. Es war Johanna, die Frau vom Messner Adolf. Wir grüßten uns knapp. So knapp, dass klar war: Wir
Weitere Kostenlose Bücher