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Kruzifix

Kruzifix

Titel: Kruzifix Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Xaver Maria Gwaltinger
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Ihnen!«
    Zorniger Blick, entschlossener Schritt.
    »Ich flehe Sie an …«
    »Weg!«, sagte sie. »Aus dem Weg!«
    Ich nahm meine letzte Kraft zusammen. Ich packte sie mit der linken Hand an ihrem weißen Arztkittelkragen.
    Sie war so verblüfft, dass sie einen Augenblick erstarrte.
    In diesem Augenblick holte ich aus und verpasste ihr eine rechte Gerade genau auf ihr hübsches Kinn.
    Ihre Fielmann-Brille fiel in weitem Bogen in den Kiesel zwischen den Gräbern. Sie schaute wie die Jungfrau Maria zum Himmel und knickte ein.
    Ein Sanitäter fing sie auf.
    Selig sind, die nicht sehen …
    Ein anderer Sani kam auf mich zu.
    Das Letzte, was ich spürte, war ein erlösender Schlag. Er tat nicht weh. Im Gegenteil. Er nahm allen Schmerz von mir und breitete eine barmherzige Decke von schwarzer Finsternis über mich.

Zum Teufel!
    Die barmherzige Decke der Finsternis entzog sich mir.
    Ich wollte nicht aufwachen, ich wollte nicht zu mir kommen. Da war ich schon viel zu lange gewesen. Bei mir. Weg von mir wollte ich. Weg von allem. Aber ich kam wieder zu mir. Langsam.
    Ich lag.
    Auf einer Art Feldbett. Pritsche. Schon lange nicht mehr auf so was gelegen. Seit meiner Jugendzeit nicht mehr. Zeltlager.
    Graue Betonwände.
    Stahlwaschbecken.
    Kübel.
    Tür mit Fenster. Gitter.
    Ich setzte mich auf. In meinem Kopf rutschten Geröllhalden hin und her. Ich war doch nicht besoffen gewesen!
    Nein. Ein Sanitäter hatte mir eine populäre Vollnarkose verpasst. Kinnhaken.
    Wo war ich?
    Im Krankenhaus.
    Aber das Klinikum Kempten hatte ich in anderer Erinnerung.
    Weiße Wände.
    Weiche Betten.
    Abgetrennte Toiletten.
    Freie Fenster.
    Schritte kamen näher.
    Das vergitterte Fensterchen in der Tür ging auf, ging wieder zu.
    Schlüssel drehten sich in Schlössern.
    Die Tür ging auf.
    Im Türrahmen stand ein uniformierter Polizist.
    »Bär.«
    Das war ich.
    Ich. In der Schule.
    »Sie, Bär!«
    Nicht: »Du, Emil«, nicht »Sie, Herr Bär«, sondern: »Bär!«
    Bär! Setzen. Sechs.
    Der Polizist sagte:
    »Bär! Aufstehen! Sie können gehen. Die Frau Dr.   Graf hat die Anzeige der schweren Körperverletzung zurückgenommen. Sie sagt, es war ein Irrtum.«
    Ich sagte:
    »Nein, war es nicht. Es war schwere Körperverletzung. Vorsätzlich. Ich wollte das so! Ich wollte nicht, dass sie …«
    Er: »Mir wurscht. Sie können gehen.«
    Ich rührte mich nicht.
    Er sagte: »Jetzt!«
    Ich rührte mich nicht.
    Er sagte: »Gehen!«
    Ich fragte: »Wohin?«
    Er sagte: »Von mir aus zum Teufel!«
    Ich schleppte mich hinaus. Es goss in Strömen.
    Zum Teufel.
    Und wenn die Welt voll Teufel wär … Luthers »Ein feste Burg ist unser Gott«. Vers drei.
    Luther. Er hatte noch Zweifel.
    Ich nicht mehr.
    Die Welt war voll Teufel.
    Mindestens einen kannte ich persönlich.
    Mich.
    Ich wollte zurück in meine Zelle.
    Jetzt. Für immer.
    Die Tür vom Polizeipräsidium Kempten fiel hinter mir zu.
    Paradise closed. Milton.
    Draußen wurde ich von strömendem Regen empfangen.
    … der aus dem Himmel mit Strömen der Liebe geregnet. Vierte Strophe von »Lobet den Herren«. Evangelisches Kirchengesangbuch 317.
    Ich sagte in den Regen hinein:
    »Kruzifix!«
    Ein Auto raste vorbei. Mitten durch eine Wasserlache. Spritzte mich voll.
    »Du Drecksau!«, schrie ich ihm nach. »Du elendige!«
    Oh, war das gut. Einen Schrei tun.
    Die Bremslichter der Drecksau leuchteten auf.
    Kurzes Herzstolpern.
    Hat der mich gehört? Steigt er gleich aus und lässt mich zusammenfallen? Ein Kerl wie ein Kleiderschrank mit Glatze und Springerstiefeln?
    Die Bremslichter gehörten einem schwarzen Audi.
    Rückwärtsgang, er kam auf meine Höhe. Das Fahrerfenster ging runter.
    Eine junge blonde Frau sagte:
    »’tschuldigung, tut mir leid!«
    »Dr.   Graf?!«
    Ich tropfte.
    »Sie, Dr.   Bär?! Ach, das tut mir leid …«
    Ich dachte:
    Da hab ich jetzt auch nichts davon, von deinem Leid.
    Sagte:
    »Das kann jedem passieren!«
    »Komm, steigen S’ ein, ich fahr Sie …«
    Ich stieg ein.
    Dr.   Graf hatte hinter ihrer Fielmann-Brille verheulte Augen. Kein Wunder.
    Sie drehte den Zündschlüssel um.
    Stille.
    Sie sagte:
    »Tut mir echt leid!«
    Ich sagte:
    »Eine Taufe schadet mir nicht. Im Gegenteil.«
    »Ich meine, wegen dem Gefängnis …«
    »Dass Sie mich rausgeholt haben, die Anzeige zurückgezogen … Ja, das hätt’s nicht gebraucht! Ich wär lieber drin geblieben.«
    Tränen liefen ihr über die Wangen.
    »Dankschön, dass Sie mich ausgeknockt haben auf dem Friedhof vor der Kirche …

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