Kruzifix
Ich sagte: ›Er hat einen Herzinfarkt gehabt. Tot. Du weißt ja, Adolf, von wem das Kind von deiner Johanna ist.‹ Er nickte, sagte: ›Von dem Misthund, dem elendigen.‹ Ich sagte: ›Er gehört dir. Mach mit ihm, was du willst. Und ich bin sicher, der Toni hilft dir dabei. Der hat nämlich auch eine Rechnung offen. Seine Frau kriegt auch ein Kind. Dreimal darfst du raten, von wem.‹ Adolf schaute auf den Toten. Ich sagte: ›Ja, genau. Von ihm. Macht mit ihm, was ihr wollt. Aber es darf niemand was erfahren.‹ Der Adolf holte mit dem Fuß aus und trat der Leiche mitten ins Gesicht. Ich wusste, die beiden, der Adolf und der Toni, würden sich der Sache ordentlich annehmen. Ihn verschwinden lassen, oder was auch immer. Ich sagte dann noch: ›Und du weißt, wenn sie euch erwischen, und es kommt raus, seid ihr dran. Ihr habt ein unschlagbares Motiv. Eifersucht. Und ich habe ein Alibi, dass ich nie hier war heute. Wasserdicht.‹«
Sie schluckte und fuhr fort:
»In der Nacht kam ich dann irgendwann zu Sinnen und mir wurde klar, was ich da angestellt hatte. Ich fuhr in aller Herrgottsfrüh zur Kirche, um zu schauen, wie die Lage war. Da sah ich den Theo Amadagio am Kreuz hängen, und da hat mich die Wirklichkeit und was ich getan habe einfach überwältigt. Aber was danach kam, war noch viel, viel schlimmer. Der Rössle hat sich einfach nicht mehr gerührt. Hat mich entsorgt …«
Sie schüttelte den Kopf. Feuchte Augen. Bittere Falten um den Mund.
Das alles wusste ich, und Rössle wusste nun auch, dass ich es wusste.
Ich hatte einen ruhelosen, bleiernen Schlaf. Am Morgen wachte ich auf. Mit einem Gefühl, das mich erinnerte an früher, als ich Kind war, und die Eltern hatten sich bis spät in die Nacht hinein bis aufs Messer gestritten. Ich wollte nicht wach werden. Mich nicht erinnern. An nichts.
Ich zog mich an.
In die Kirche gehen.
Vielleicht hilft Beten.
Ich rief nach Rössle durch das Haus. Nichts rührte sich. Vor meiner Tür lag ein Zettel. »Bin schon gegangen.« Komisch. Warum hatte er nicht warten können, damit wir zusammen runtergehen? Hatte er ein schlechtes Gewissen? War er noch sauer nach unserem Disput gestern Abend? Schämte er sich?
Nach fünfzig Metern talwärts klebte mir das Hemd am Rücken. Mein Trachtenjanker wurde zur Sauna. Der Gipfel des Grünten verschwand in Gewitterwolken, die Sonne stach, die Bremsen noch mehr.
Zum Glück hatte ich mein Taschentuch wieder.
Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn.
Der Schweiß war kalt.
Die Glocken läuteten.
Die Kühe wedelten sich die Bremsen von den mistverkrusteten Hinterläufen und zuckten mit dem Fell.
Ich war früh dran.
Ich hatte schlecht geschlafen. Alpträume. Flugzeugabstürze. Rote Lippen. Schwarze Kreuze. Alles durcheinander.
Das Gewitter kam näher. Die Sekundenabstände zwischen Blitz und Donner wurden kürzer.
Der Parkplatz an der Kirche war noch leer.
Nicht mal der Golf vom Hochwürden Xaver Maria Guggemoos aus Marktl war da.
Wo war Rössle?
Wahrscheinlich saß er schon drinnen.
Ich schritt hastig durch die Grabreihen zum Portal der Kirche.
Öffnete die Tür.
Sie quietschte.
Leere Bankreihen.
Kein Mensch.
Im Altarraum stand eine Leiter.
Glänzte.
Neu.
Enorm hoch.
Ich folgte ihr mit den Augen nach oben.
Und dann schloss ich die Augen und schüttelte mich und dachte:
Hoppla, jetzt spinnst. Ein Déjà-vu-Erlebnis.
Ich öffnete die Augen. Immer weiter.
Vor dem Kruzifix hing der lasche Körper von Willibald Rössle an einem Strick.
Blaues Gesicht.
Kalbszunge.
Wächserne Haut.
Strähnige, grauvergilbte Haare.
Das Hemd von gestern. Vorgestern. Vorwoche. Spaghetti Bolognese. Sauerbraten mit Blaukraut.
Ich griff nach meinem Taschentuch.
Falls ich kotzen musste, ich war nah dran.
Meine Knie wurden weich.
Ein Schleier legte sich vor meine Augen. Gott, der Vorhang geht runter.
Draußen ein Martinshorn.
Noch eines.
Polizei!
Notarzt!
Notarzt? Notarzt! Doch nicht etwa …
Ich riss den Vorhang vor den Augen weg.
Nur eines musste ich noch machen, das letzte Sinnvolle in meinem sinnlosen Leben.
Ich wankte so schnell ich konnte hinaus, warf die Kirchentür hinter mir zu.
Über die Gräber kam die Notärztin im Laufschritt.
»Dr. Graf«, schrie ich, »warten Sie!«
»Sie … schon wieder … weg … aus dem Weg!«
Sie wollte mich zur Seite schieben. Zwei Sanitäter trabten hinter ihr her.
Ich versperrte ihr den Weg.
»Dr. Graf … nein … Gehen S’ nicht … Ich verbiete es
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