Kruzifix
Ein Ort, der eigentlich jedem gefiel und für sich
sprach. Über einem alten Küchenherd hing Omas Unterhose – mit Spitzen verziert,
versteht sich. Kerzen warfen warme Lichtflecken auf die alten Holzbalken. Die
Tische zeigten stolz ihre Narben und Wunden von gut hundert Jahren Bierstemmen
und Karteln. Der Steinboden erzählte von schweren nagelbeschlagenen
Winterstiefeln. Bloß war dieser Inbegriff einer Stube überhaupt nicht alt, nur
ihre Einzelteile. Monatelang hatten die Wirtsleute in Scheunen gefahndet,
Freunde befragt, Balken geschleppt und etwas geschaffen, das so aussah, als
wäre es schon immer so gewesen. Ein bisher unschöner Schuppen war in eine
Allgäuer Bergbauernstube verwandelt worden. Aber auf Patrizias Truppe, die auf
einer Art Empore saß, hatte das offenbar wenig Wirkung.
Gerhard Weinzirl, Jos Jugendfreund, der in Kempten bei der
Mordkommission arbeitete, saß am Nebentisch und beobachtete ebenfalls die
Szene. Er war, was selten vorkam, rein privat unterwegs. Seine Eltern hatten
Verwandtenbesuch aus Zornheim bei Mainz, und »die Alp« war der perfekte Ort, um
die »Preißn« dahin auszuführen. Gerhard hatte ein paarmal Patrizias Blick
gesucht, aber sie schien zu angespannt, um ihn überhaupt wahrzunehmen. Gerhard
konnte sie gut verstehen, als er den Blick über die Gruppe am Nachbartisch
gleiten ließ.
An der Stirnseite saß ein Schmuddel-Typ, in dessen Kräuselbart sich
eine Schupfnudel verfangen hatte. Angesichts seiner Wampe, die das T-Shirt mit TUI -Werbeaufdruck nur unzureichend
bedeckte, kam Gerhard zu dem Schluss, dass die Nudel wahrscheinlich als Wegzehrung
für später gedacht war. Daneben kauerte ein Mädel, Marke »Mäuschen«, das sich
wahrscheinlich für die Platzwahl verfluchte. Dann ein Endzwanziger in typischer
Großstadtverkleidung in schwarz und mit einem Gesichtsausdruck, der so
kaltschnäuzig wirkte, dass selbst ein Eskimo aufs Nasereiben verzichtet hätte.
Er wurde flankiert von einer älteren Lady, deren liebstes Tier wohl die
Drossel, respektive die Schnapsdrossel war. Dann folgten auf der Bank zwei
Gestalten, die ganz offensichtlich miteinander techtelten. Jeder trug einen
Ehering, aber dass weder die Ringe noch die Personen zusammengehörten war klar.
Das alles erschien Gerhard schon wie ein Panoptikum der Sonderklasse, aber die
Krönung der Tafelrunde stellte ein Glatzkopf am anderen Ende des Tisches dar.
Er war ein Hüne und hatte unangenehme, tief in den Höhlen liegende
Rumpelstilzchen-Augen, wie Gerhard fand. Schnell streifte sein Blick den Rest:
eine sympathisch aussehende junge Frau und zwei eher unauffällige Männer. Einer
aber begann plötzlich zu strahlen und stand auf. Er war blond, sommersprossig,
sehr schlank. Gerhard wandte den Kopf und sah Jo in der Tür des Gastraumes
stehen. Er fühlte einen Kloß im Hals.
Jo nestelte an ihrem Rock, auch sie zeigte heute alpenländisch
Flagge und trug ein Dirndl. Ein dickes Winterdirndl zudem. Jo teilte Patrizias
Pein. Sie hatte noch im Auto darüber nachgedacht, auf Kiemenatmung umzustellen,
bevor die Knöpfe abzuspringen drohten. Sie nestelte noch mal am Rock und ging
dann mit Zahnpastareklamestrahlen und großen festen Schritten auf den Tisch zu.
»Grüß Gott meine Damen und Herren, es tut mir außerordentlich Leid, dass ich
Sie heute im Stich lassen musste. Aber Sie waren bei meiner Assistentin mit
Sicherheit in den besten Händen! Doktor Johanna Kennerknecht, geschäftsführende
Direktorin des Tourismusverbands. Ich darf Sie jetzt auch noch mal ganz
herzlich willkommen heißen.« Obwohl Jo ihr Doktortitel so wurscht war wie das
sprichwörtliche Fahrrad, das in Tokio umfällt, setzte sie ihn heute bewusst
ein.
Sie schüttelte den Anwesenden einzeln die Hand. Dann gab es eine
dicke Umarmung und Küsschen für den Blonden, der immer noch lächelnd neben dem
Tisch stand.
»Jens, grüß dich, ich freu mich, dich zu sehen.«
Jo winkte der jungen Frau zu. Das war Alexandra und neben Jens die
Einzige in der Gruppe, die sie bereits kannte. Die Schupfnudel schoss hoch, um
ebenfalls ein Küsschen zu ergattern. Jo hatte das unangenehme Gefühl, dass
diese Nudel soeben den Dekolleté-Vergleich zwischen ihr und Patti anstellte.
Ein Stuhl wurde für Jo zurechtgerückt, und für den Moment schien
sich die Stimmung aufzuheitern. Hier kam die Chefin, und die würde alles
erhellen. Für Journalisten machten Touristiker doch alles, verbogen sich,
veränderten feststehende Programme in Sekundenschnelle, zauberten
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