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Kruzifix

Kruzifix

Titel: Kruzifix Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Xaver Maria Gwaltinger
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Himmelfahrt. Vatertag.
    Theo Amadagio war zum Himmel gefahren. Wahrscheinlich. Hoffentlich nicht in die Gegenrichtung. »Auf dem Weg zur Hölle ist ein Geisterfahrer unterwegs …« Was einem Blödes einfällt, wenn der Tag lang ist.
    Ich saß vor dem Haus. Die »Alm«. Ich wohnte in einer kleinen Wohnstube unterm Dach. Einrichtungsstil: kein Stil. Restmöbel der fünfziger Jahre, ergänzt durch Elch-Regale von Ikea. Der Rest des Hauses stand leer. Es war ein altes Bauernhaus, in den fünfziger Jahren umgebaut zu einem »Heim« für Berg- und Naturfreunde. Mit den Jahrzehnten waren die Ansprüche gestiegen. Von wegen Matratzenlager und Gemeinschaftsduschen. Schickimicki-Appartements waren geplant. Die alt gewordenen Berg- und Naturfreunde suchten noch einen Investor, aber der ließ auf sich warten. Die Lage war zu mittelmäßig. Kein Lift, kein Shoppingcenter, kein Après-Ski, keine Disko. Nur Kuhglocken im Sommer, unpräparierter Schnee im Winter, und ohne Schneeketten kam man sowieso nicht hinauf. Genau richtig für mich.
    Um zehn marschierten die ersten Wanderer vorbei auf dem Weg zur Gellehöhe. Wenn sie oben sind, sehen sie nach Osten ins Wertachtal und bis an die Zugspitze und nach Westen ins Rottachtal und bis nach Kempten. Alle Sonntagsbergsteiger sind professionell ausgestattet. Bergschuhe wie für den Mont Blanc, Rucksäcke von Wolfskin. Skistöcke. Ach was: Walking Sticks. Die mit den Sticks kommen alle von der Stadt. Kein Allgäuer staffiert sich mit Walking Sticks aus. Der Allgäuer kann auch ohne Walking Sticks aufrecht laufen.
    Vorbei schnauften Muttis und Vatis mit Kindern, die maulten, weil es heiß war und bergauf ging. Die Vatis redeten beruhigend auf die Kids ein. Die Muttis versuchten, glücklich zu schauen.
    Ich beneidete diese Familien.
    Ich war allein.
    Gott sei Dank.
    Unten lag der See, wie immer, heute blau. Mit Segelschiffchen darauf. Der Turm der Kirche von Tal spitzte durch die Tannen herauf.
    Messe war keine. Ausgefallen.
    Vier Glockenschläge. Dann zehn andere. Aha, zehn Uhr. Dann noch mal zehn. Warum? Weiß Gott. Ob ich um zehn schon mit dem Frühschoppen anfangen sollte? Edelstoff von Augustiner. Mit einem Obstler vorwärmen?
    Dann bin ich bis Mittag blau. Nachmittag verschlafen. Aber was soll ich sonst machen?
    Im Ruhestand.
    Andererseits hatte ich Lust, meinen Rausschmiss beim Kemptener Tagblatt zu feiern. Ich war noch immer stolz. Ich wollte schreiben. Veröffentlichen. Aber nicht um jeden Preis. Wer bin ich denn?!
    Ein einzelner Wandersmann schritt langsam und mit Bedacht herauf. Ich sah ihn schon auf einen Kilometer Entfernung. Ich überblickte die Landschaft und die Straße, die erst weiter unten in das Waldstück taucht. Dort tauchte er auf.
    Er sah aus wie ein Akademiker kurz vor oder nach der Pensionierung. Gepflegt. Graues Haar, gescheitelt, gekämmt. Eins achtzig. Brav. Randlose Brille. Keiner, der sich am Vatertag volllaufen lässt.
    Er erblickte mich. Blieb stehen.
    »Wohnt hier der Dr.   Bär?«
    »Ja.«
    »Wo?«
    »Hier.«
    »Und wo kann ich ihn finden?«
    »Hier.«
    »Sind Sie der Dr.   Bär?«
    »Ja.«
    »Grüß Gott.«
    »Grüß Gott.«
    »Ich tät Sie gern sprechen.«
    Ich dachte: Ich nicht.
    Ich sagte:
    »Dann hocken Sie sich halt her. Auf der Bank ist noch Platz.«
    Er betrat das Grundstück, kam auf mich zu, strecke mir die Hand entgegen.
    »Willibald Rössle.«
    »So, so. Grüß Gott.«
    Anstandshalber war ich aufgestanden. Er war nicht der Typ, bei dem man hocken bleibt. Irgendwie. Einen Kopf größer als ich. Ich schaue ungern auf.
    Ich sagte nichts. Wer nichts sagt, ist im Vorteil.
    »Sie wundern sich vielleicht, dass ich hier raufkomm zu Ihnen.«
    »Hm.«
    »Und was ich von Ihnen will.«
    »Und was wollen S’ von mir?«
    »Ich hätte einen Auftrag.«
    Ich dachte sofort an was zum Schreiben. Ein Buch? Ein Feature? Ist er gar von der Zeitung? Der Verleger der Allgäuer Rundschau?!
    Ich hielt die Luft an. Lauschte.
    »Einen Job. Eine Mission.«
    »Ich bin kein Missionar.«
    »Ich weiß, Sie sind Psychoanalytiker.«
    »War.«
    »Was, war?«
    »Ich war Psychoanalytiker.«
    »Ja, bis vor sechs Tagen. Aber Psychoanalytiker bleibt man. So wie man Priester bleibt. Auch wenn man in Rente geht. Außerdem sind Sie ja auch Pfarrer.«
    »Und woher wollen S’ das wissen?«
    »Ich hab mich erkundigt.«
    »Und wo? Und warum?«
    »Reden wir nicht lang rum. Letzten Sonntag …«
    Nicht das schon wieder! Ich hatte Durst. Ich wollte meinen Frühschoppen anfangen. Seit

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