Kryson 05 - Das Buch der Macht
vertieft beschäftigt hatte. Sapius erkannte, um welches Werk es sich dabei handelte.
»Bei den Kojos, das Buch der Macht!«, raunte Sapius entsetzt. »Bist du von Sinnen? Das Buch ist gefährlich. Der Inhalt ist nicht für deine Augen bestimmt.«
Sapius konnte nicht fassen, dass Kaschta über sein ausdrückliches Verbot hinweggegangen war und das Buch aufgeschlagen hatte. Der Schüler war wissbegierig, das wusste Sapius, aber wie sollte er ihm jemals wieder vertrauen oder ihn allein lassen können, wenn er sich in seiner Abwesenheit solch gefährlicher Magie annahm. Sapius hatte sich zeit seines Lebens nicht getraut, im Buch der Macht zu lesen, geschweige denn sich im Schreiben zu versuchen. Das Buch war tabu. Der Magier bewahrte es auf, damit es nicht in die falschen Hände geriet. Aber nun hatte sich Kaschta entgegen allen Warnungen des mächtigsten Buches der Altvorderen angenommen.
»Gib mir das Buch!«, verlangte Sapius.
Mit gesenktem Blick reichte Kaschta seinem Lehrmeister das Buch. Sapius riss das in dickes schwarzes Leder eingebundene Werk mit zitternden Händen an sich und presste es an seine Brust. Das Buch der Macht wog schwer in seinen Händen. Vorsichtig schlug er es auf. Verwundert zog er die Augenbrauen hoch, als er lediglich auf leere Seiten blickte.
»Was ist das?«, fragte er Kaschta. »Hier steht nichts.«
»Ihr müsst genau hinsehen. Berührt die Seiten vorsichtig mit Euren Fingern und lasst Eure Magie in das Buch fließen,dann werden Buchstaben und Worte wie von Geisterhand erscheinen«, sagte Kaschta.
»Du konntest im Buch lesen?«, zeigte sich Sapius verwundert.
»Aber ja«, antwortete Kaschta, als wäre diese Fähigkeit für ihn selbstverständlich, »ich bin Euer Schüler. Ihr habt mir das Lesen doch beigebracht.«
»Gewiss. Das ist lange her. Es hat mich viel Geduld gekostet. Ich erinnere mich dunkel an deine ersten Versuche und die quälenden lang gezogenen Worte, die du ohne Sinn und Verstand aneinandergereiht hast. Aber doch nicht aus diesem Buch! Nur die Altvorderen, die Wächter des Buches und wenige Auserwählte sind in der Lage, die Zeilen im Buch zu entziffern. Und nur die unsterblichen Wächter des Buches sind dazu berufen, das Buch fortzuschreiben. Das Buch hält die Geschichte Krysons fest und schreibt sich von selbst.«
Sapius’ Blick fiel auf die Wunde an Kaschtas Arm und wanderte auf den Tisch zur Blutschale und den Schreibutensilien. Der Magier sah seinem Schüler tief in die Augen. Sein Blick war streng und fordernd. Er würde keine Ausreden gelten lassen.
»Du hast in das Buch geschrieben«, sagte Sapius kalt.
Kaschta begann am ganzen Leib zu zittern. Er nickte und starrte beschämt auf seine Sandalen. Er hatte seinen Lehrer verärgert.
Nie zuvor hatte sich Sapius seinem Schüler gegenüber dermaßen entsetzt und wütend gezeigt. »Sieh mich an«, forderte er, »oder was suchst du auf dem Boden? Hast du vergessen deine Füße zu waschen?«
Kaschtas Kopf ging ruckartig nach oben. Ihre Augen trafen sich. Kaschta entgegnete zögernd: »Ich … ich wollte Euch doch nur eine Freude machen und habe nur einige Zeilen geschrieben. Wenig, mein Ehrenwort … sehr wenig. Kaum der Rede wert.«
»Ich muss wissen, was du geschrieben hast!«, verlangte Sapius außer Atem. »Kryson verändert sich. Die Vergangenheit schwindet schon. Uns bleibt wenig Zeit.«
»Die Geschichte von Elischa und Madhrab, Euer eigenes Schicksal, das von Verzicht, Einsamkeit, Verrat und Verlust geprägt ist«, antwortete Kaschta. »Ich habe die Geschichte gelesen und musste weinen. Ihr seid so ein guter Mann und habt ein anderes Schicksal verdient. Ich liebe Euch wie einen Vater, Sapius. Ich wollte nichts Böses tun, das müsst Ihr mir glauben. Ihr seid gut zu mir. Ihr seid der Vater, den ich nie hatte. Aber Euer Leben war so traurig, finster und ohne Hoffnung. Selbst für einen Leser ist es zu furchtbar, dieses Schicksal zu ertragen.«
»Was genau hast du getan?«, wollte Sapius wissen.
»Ich schlug das Buch auf«, antwortete Kaschta, »und las Eure Geschichte. Ich sah die Bilder vor meinen Augen. Erst unscharf und dann immer deutlicher. Es war, als wäre ich selbst dabei gewesen, und doch stand ich nur daneben wie ein Beobachter. Ich musste mich von den schrecklichen Ereignissen losreißen, um nicht den Verstand zu verlieren. Dann begann ich die Geschichte neu zu schreiben. Lest, was ich geschrieben habe. Es ist wirklich nur ein winziger Abschnitt.«
Kaschta hatte den Magier neugierig
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