Kryson 05 - Das Buch der Macht
gemacht. Zum ersten Mal machte er sich daran, im Buch der Macht zu lesen. Sapius fuhr mit den Fingern über die Seiten des Buches. Ein Kribbeln an seinen Fingerkuppen zeigte ihm, dass er auf dem richtigen Weg war, die unsichtbare Schrift zu entziffern. Plötzlich erschienen die Zeilen, die Kaschta mit seinem eigenen Blut geschrieben hatte. Sapius las den Abschnitt mit großen Augen. Mit jedem Wort wurde sein Entsetzen größer.
Er hatte Elischa auf seinem Weg zum Lager der Nno-bei-Klan kennengelernt. Daran erinnerte er sich nach all der Zeit noch gut. Wie könnte er sie je vergessen!
»Elischa! Sie war so wunderschön«, dachte er verträumt.
Sapius sah sich selbst im Regen, wie er ihr aufgelauert und sie ihn danach mit ihrem Stab niedergeschlagen hatte. Beinahe hätte er gelächelt, als er die Szene vor seinen Augen sah. Wie ungeschickt er sich doch angestellt hatte. Als sie nach der Nacht in einer Höhle gemeinsam zu den Ufern des Rayhin weitergezogen waren, waren sie von einem Trupp Rachuren überrascht worden. Sapius erinnerte sich daran, wie unentschlossen und zögernd er damals gewesen war, unfähig zu handeln. Dadurch hatte er Elischa in große Gefahr gebracht. Aber diese Szene war anders, als er sie in Erinnerung hatte. Sapius stellte sich schützend vor die Orna, zögerte nicht und zeigte seine ganze Macht. Er schlug die Rachuren in die Flucht. Sie folgten den Fliehenden auf dem Fuße zum Lager der Rachuren.
Sapius schüttelte ungläubig den Kopf. Das hätte er niemals getan. Nicht damals. Er war noch so jung und unerfahren gewesen. Ein Skeptiker, der alles infrage stellte und Schwierigkeiten hatte, Entscheidungen zu treffen. Die Entschlossenheit eines Helden hatte ihm gefehlt. Dieser Sapius war anders als er. Aber die Bilder der Vergangenheit bekamen plötzlich Risse. Beinahe glaubte er, was er nun las. War er das? Hatte Sapius das Leben der Orna wagemutig und heldenhaft gerettet?
Er ließ sich zum Anführer der Rachuren bringen. Die Rachurenkrieger folgten seinen Anweisungen widerspruchslos. Alleine seine Erscheinung versetzte sie in Angst und Schrecken. Sapius, der Mächtige. Lediglich der Rachurengeneral Grimmgour, der Schänder, ließ sich nicht von diesem Sapius beeindrucken. Grimmgour war ein Scheusal ohnegleichen. Sapius sah den Schänder von Angesicht zu Angesicht vor ihm stehen. Der Magier hatte keine Angst vor dem tobenden und brüllenden Krieger. Grimmgour warf Elischa begehrliche Blicke zu, hielt sich jedoch in der Gegenwart des Magiers zurück. Sapius widerstand auch den Anfeindungen desTodsängers Nalkaar, der dem Rachurengeneral geheime Worte zuflüsterte. Sapius verglich den Todsänger mit einer Viper, deren Biss tödlich war. Aber Nalkaar war in seinen Augen nichts weiter als eine verlorene Seele. Tot und stets auf der Suche nach der Schönheit ihres obskuren Gesangs. Ein Geschöpf aus einer anderen, dunklen Welt, das unter den Lebenden nichts zu suchen hatte.
Mit scharfem Verstand und seinen magischen Talenten brachte Sapius die Rachuren dazu, von ihren Eroberungen abzulassen.
» Das ist unmöglich«, dachte Sapius und rieb sich verwundert die Augen, »Grimmgour hätte sich niemals von seinem Vorhaben abbringen lassen. Und Nalkaar wollte sich von den Seelen der Klan nähren und seinen Gesang verfeinern. Warum sollten sie meinen Worten folgen?«
Aber das konnte kein Trugbild sein. So und nicht anders musste sich die Geschichte abgespielt haben. Seine Erinnerungen wurden mit jedem weiteren Satz immer klarer. Natürlich, das war die Wahrheit. Wie hatte er all dies vergessen können? Elischa verliebte sich unsterblich in den heldenhaften Retter der Klan. Das Glück, das Sapius bei der Erinnerung an seine Liebe empfand, war unbeschreiblich und es war echt. Konnten diese Bilder und die Gefühle lügen? Er wurde wieder geliebt. Von Elischa.
Das Schriftbild veränderte sich. Offenbar war Kaschtas Eintrag an dieser Stelle beendet. Das Buch schrieb die Geschichte allerdings weiter und weiter. Sapius konnte es nicht weglegen. Er musste lesen, wie es weiterging, obwohl er das bereits wusste. Schließlich hatte er jene Tage doch genauso erlebt. Oder nicht?
Die Schlacht am Rayhin hatte niemals stattgefunden. Das Blutvergießen an der Tareinakorach war eine Lüge. Schon bald nach dem Rückzug der Rachuren wurde Madhrab zumhohen Vater der Bewahrer berufen. Er führte den Orden als Overlord mit Umsicht und befreite den Norden endlich von der Plage der Bluttrinker. Quadalkar starb durch das
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