Kryson 06 - Tag und Nacht
Ende war nah. Es juckte ihn in den Fingern, das Buch aufzuschlagen und endlich zu beginnen. Auf die Seereise nach Tut-El-Baya hatte er sich gern eingelassen. Das war praktisch, um in die Hauptstadt der Klan zu gelangen. Waren sie erst einmal in Tut-El-Baya gelandet, wollte er sich nicht mehr an Saykaras Pläne halten. Er war sein eigener Herr und nicht ihr gehorsamer Sklave.
»Geht und lasst uns allein«, befahl Saykara ihren Dienerinnen.
Lyara und Zyola verneigten sich und eilten hinaus.
»Wir werden uns lange nicht mehr sehen«, hauchte Saykara und blickte Tomal dabei traurig an, »du wirst für mich die Klanlande erobern und ich werde einen anderen Kontinent erforschen.«
»So du ihn denn findest und heil erreichst«, meinte Tomal.
»Warum sollte ich nicht?«, fragte Saykara leise und klang dabei, als hätte sie selbst Zweifel an ihrem Vorhaben. »Ich habe so viele Diener, die mich Tag und Nacht umsorgen, und Krieger, die mich mit ihrem Leben beschützen. Was soll mir da schon geschehen?«
»Sie könnten auf der Reise verhungern und verdursten, weil die Vorräte ausgehen. Sie könnten krank oder während eines Sturms von Bord gespült werden. Sie könnten …«
»Ach, Unsinn«, winkte Saykara ab, »die Laderäume sind voll und wenn es nichts mehr gibt, werden wir Fische fangen. Du machst dir Sorgen um mich. Das ist schön.«
Saykara legte eine Hand auf Tomals Arm und blickte den Lesvaraq mit leicht geöffneten Lippen an. Er zog die Königin an sich und küsste sie.
»Komm«, forderte ihn Saykara auf, »wir lieben uns ein letztes Mal, bis die Sonnen wieder über die Insel aufgehen und wir Abschied voneinander nehmen müssen.«
Tomal hob die Königin auf die Arme und trug sie zu ihrem Bett.
*
Sapius schlug die Augen auf und fand sich – auf dem Rücken liegend – unter einem Baum wieder. Benommen starrte er entlang des mächtigen Baumstamms in das dichte Blätterwerk über ihm.
Er erinnerte sich daran, dass er schon einmal ein ähnliches Erlebnis hatte. War es in einem Traum gewesen?
»Natürlich! Das Land der Tränen, Farghlafat«
, dachte Sapius,
»ich bin tot.«
Aber etwas war anders als in seiner Erinnerung. Sein Hals und Nacken schmerzte, außerdem drückten Wurzeln und Steine in den Rücken. Sein Schädel brummte, als hätte er tagelang zügellos zu viel Bräu in sich hineingeschüttet. Dabei fiel ihm auf, dass seine Kehle ausgetrocknet war.
»Wasser«
, dachte er,
»ich muss trinken. Ich gäbe ein Königreich für einen Eimer Wasser.«
Es juckte ihn in der Nase und ein unbestimmbarer Gestank hing in der Luft. Sapius war übel und er musste dringend seine Blase entleeren.
»Im Land der Tränen hatte ich keine Schmerzen. Ich war tödlich verletzt und spürte nichts, als ich unter dem Baum des Lebens lag.«
»Er ist aufgewacht«, hörte er eine vertraute Stimme in der Nähe sagen.
»Gut«, antwortete eine derbe Frauenstimme, »lass uns sehen, wie er sich fühlt.«
Sapius vernahm Schritte, setzte sich auf und blickte sich verwundert um. Um ihn herum befanden sich Bäume, Büsche, Gräser und herabgefallenes Laub. Er saß am unteren Rand eines dicht bewaldeten Abhangs, der sich steil nach oben zog. Tarratar und Daleima kamen mit besorgten Gesichtern auf ihn zu.
»Hoi, hoi, hoi …«, sagte der Narr, »wie geht es Euch?«
»Ich weiß nicht«, brummte Sapius und fasste sich prüfend an den Hals, »bin ich bereits tot?«
»Nein«, sagte Daleima, »Ihr lebt. Aber Ihr hattet Glück. Ich konnte Euren Kopf in letzer Sardas aus Grenwins Maul ziehen. Nur einen Augenblick später und Ihr hättet Euch kopflos im Land der Tränen ausruhen müssen.«
»Ihr könnt Euch bei Daleima bedanken«, meinte Tarratar, »sie hat Euch vor dem Zorn des vierten Wächters gerettet und ihn zur Vernunft gebracht. Das eigentlich Gefährliche war sein giftiger Atem. Ihr habt das Bewusstsein verloren, bevor er Euch den Kopf absägen konnte. Wir hatten schon befürchtet, die Vergiftung wäre zu weit fortgeschritten. Aber wie es aussieht, dürftet Ihr das Schlimmste bereits überstanden haben. Außer Kopfschmerzen über die nächsten Horas wird nichts zurückbleiben. Die Kratzer heilen bald wieder.«
Sapius erinnerte sich mit Schrecken an den Moment, als Grenwin das schreckliche Maul über seinen Kopf stülpte. Der abscheuliche Gestank hing dem Magier noch immer in der Nase und drehte ihm fast den Magen um. Die Bilder des Kampfes fielen ihm wieder ein. Die gefallenen Gefährten. Das Buch der Macht. Tomal! Wo waren der
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