Kubu und der Tote in der Wueste
daher glaubten die Eltern wohl, ihren Kindern könne nicht viel passieren. Dianna und ihr Bruder hatten Proviant für ein Picknick eingepackt und wollten hinauf auf den Koppie steigen. Zum Abendessen sollten sie wieder zu Hause sein. Sie kletterten auf der dem Haus abgewandten Seite hinauf, absichtlich die schwierigste Strecke , um die Sache spannender zu machen. Ungefähr auf halbem Wege aßen sie ihre Brote, spielten eine Weile mit den Eidechsen auf den Felsen und warfen ihnen kleine Fleischstückchen zu. Als sie schließlich weitergingen, war es schon spät. Sie verirrten sich in einem Dornbusch-Dickicht, das sie böse zerkratzte. Daniel wurde müde und wollte nach Hause, aber Dianna überredete ihn. Sie wollte bis ganz hinauf steigen, um auf der anderen Seite einen leichteren Weg hinunterzugehen, den sie kannte. Als sie aus den Dornbüschen herausfanden, waren sie schon fast ganz oben. Sie entdeckten einen schmalen Pfad, der an einigen großen Granitfelsen entlangführte. Der Leopard sprang hinter einem von ihnen hervor und griff sie an. Beide flüchteten, wurden aber getrennt. Dianna meinte, sie würde den Koppie hinunterlaufen in Richtung Haus, aber es wurde dunkel, und sie muss völlig die Orientierung verloren und sich verirrt haben. Sie hatte große Angst. Sie kletterte auf einen Baum und verbrachte dort die Nacht. Sie weinte, aber sehr leise, weil sie befürchtete, der Leopard sei genau unter ihr. Sie wusste, dass diese Tiere exzellente Kletterer sind. Sie hörte sogar in der Ferne Leute rufen, traute sich aber nicht, zu antworten. Man fand sie am nächsten Morgen.«
»Und der Junge?«
»Sie fanden seine Leiche auf halbem Weg den Koppie hinunter. Er war von einer Felsenkante in der Nähe des Gipfels gestürzt.«
»War er zerfleischt worden?«
»Nein. Gott sei Dank war er unversehrt.«
»Hat man Spuren gefunden? Gerissene Tiere?«
Hilary schüttelte den Kopf. »Nein, es wurden nie irgendwelche Spuren von dem Leoparden gefunden. Aber es war trocken und der Boden knochenhart. Außerdem hielt er sich sowieso oben zwischen den Felsen auf.«
»Warum kam Dianna zu Ihnen?«
»Ihre Mutter brachte sie. Sie erklärte, das Kind sei niedergeschlagen und ungewöhnlich still. Dianna litt unter Schuldgefühlen. Sie wardie Ältere, und ihr kleiner Bruder hatte umkehren wollen. Sie fühlte sich für seinen Tod verantwortlich. Es gab noch viele andere Dinge, die ich gerne mit ihr durchgegangen wäre, aber ihre Mutter fand die Vorstellung peinlich, ihre Tochter zu einer ›Nervenärztin‹ zu bringen, wie sie es nannte. Sie kamen nicht wieder. Knapp ein Jahr später starb Roland Hofmeyr bei einem Flugzeugabsturz, und seine Frau ging mit den Kindern nach England zurück.«
»Danke, dass Sie sich Zeit für mich genommen haben, Dr. Mayberry. Sie haben mir sehr geholfen«, sagte Kubu, stand aber noch nicht auf. Er bewegte einen nach dem anderen die Finger beider Hände, als wollte er nachzählen, ob es wirklich zehn waren. Dann sagte er, den Blick immer noch auf die Hände gerichtet: »Haben Sie ihr geglaubt? Ich meine, die Geschichte mit dem Leoparden?«
Hilary schien überrascht. »Natürlich. Warum nicht?«
»Finden Sie es nicht merkwürdig, dass er keines der Kinder erwischt hat? Es hat sich angehört, als wäre er ihnen sehr nahe gewesen. Und dass es keine Spuren gab? Dass er über den Schutzzaun gesprungen ist?«
Hilary schüttelte den Kopf. »Ich bin auf einer Rinderfarm im Busch aufgewachsen und kenne mich ein bisschen mit Leoparden aus. Siesind Überlebenskünstler, und ihr Verhalten kann unvorhersehbar sein. Man weiß, dass sie über Wildzäune klettern, Viehzäune überspringen sie einfach. Sie sind schwer aufzuspüren, sauber, Meister der Tarnung. Und sie jagen kleine Antilopen oder, wenn sie keineerwischen, Paviane – ebenfalls Überlebenskünstler. Wenn sie auch die nicht kriegen, haben sie eine Vorliebe für Haushunde. Von allen Großkatzen der Welt können Leoparden am besten in der Nähe der Menschen leben – und überleben.« Sie klang, als hätte sie großen Respekt vor Leoparden, würde sie aber nicht besonders mögen. »Was den Angriff auf die Kinder angeht, bin ich mir nicht sicher, dass er wirklich hinter ihnen her war. Ich glaube, dass sie einfach das Pech hatten, ihm zu nahe zu kommen, sein Revier zu betreten, und deshalb ist er auf sie losgegangen. Aber als sie wegrannten, hat er sie nicht weiter verfolgt.«
»Hätte sich ein ›Überlebenskünstler‹ nicht das Frischfleisch am Fuß des
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