Kuckuckskind
Bombendrohung, dann können Sie mir leidtun, Frau Reinold! Genau das Gegenteil ist der Fall! Manuel und ich denken darüber nach, wie eine bessere Friedenspolitik aussehen müsste.«
Auch Manuel runzelt finster die Stirn. »Anja, das mit der Bombe war nicht witzig. Uns geht es um einen ernsthaften Konflikt. Zum Beispiel wurde der indische Markt durch billige Milchpulver-Importe aus den EU -Staaten weitgehend zerstört. Aber Indien ist ein traditionell gewaltfreies Land, sollte man die dortigen Bauern nicht dennoch zum Widerstand ermutigen?«
Ich hole mir ein Senfglas aus dem Küchenregal, schenke mir Rotwein ein und betrachte meine agitierenden Schüler. Der Flaum auf ihren Oberlippen hat sich zu rührenden Bärtchen entwickelt, Julians Altstimme ist zum Tenor mutiert. Ob ich ihn für den Chor anwerben könnte?
»Du nimmst uns nicht ernst, Anja«, klagt Manuel. »Weißt du überhaupt, dass die Wirtschaftshilfe für Afrika nur dazu dient, um dort Geschäfte für die USA anzukurbeln? Man kennt die ganze Misere und tut nichts dagegen, Julians Oma ist eine der wenigen, die sich traut!«
Beschämt von den jungen Idealisten senke ich den [187] Kopf; sie haben durchaus recht, ich interessiere mich leider mehr dafür, ob Patrick die Stelle in Potsdam bekommt, als für den Klimawandel. »Was sagt denn dein Vater zu diesen Problemen?«, frage ich Manuel.
Er zuckt mit den Achseln. »Patrick ist zwar prinzipiell auf unserer Seite; ich habe ihn auch dazu überredet, den Müll zu trennen und Energie zu sparen. Aber mein Vater ist viel zu lasch, um mal richtig auf den Tisch zu hauen!«
Die Rotweinflasche ist leer, jetzt sollte ich mal auf den Tisch hauen. »Julian, wie kommst du überhaupt nach Hause? Soll ich dich fahren?«
»Sie haben getrunken«, stellt Julian fest. »Wollen Sie Ihren Führerschein verlieren? Ich bleibe hier, Patricks Bett ist ja frei.«
»Na dann, gute Nacht«, sage ich und verlasse die beiden Weltverbesserer. Wenn es meine Kinder wären, fiele es mir sicherlich schwer, die Gratwanderung zwischen Verständnis und konsequenter Einhaltung von Regeln zu meistern. Die beiden Jugendlichen sind keine Dummköpfe, sollten sich aber auch nicht in Hitzköpfe verwandeln. Auch meine Kollegen stehen den brennenden Fragen unserer Schüler meist hilflos gegenüber und überlassen aus Bequemlichkeit die Suche nach einer Lösung den Politikern.
[188] Und noch etwas lässt mich nicht einschlafen: Soll ich Patrick erzählen, dass sein Sohn heimlich raucht und trinkt, oder weiß er es längst und hat nichts dagegen? In diesem Alter hatte ich es übrigens auch ausprobiert, aber nach der ersten Zigarette wurde mir so schlecht, dass ich auf weitere Versuche verzichtete.
Kurz vor dem Einschlafen muss ich noch ein bisschen kichern, denn der Naturschützer Manuel wünschte sich sehnlich ein stinkendes Mofa und bekam es auch. Und als er mich beim Autokauf beriet, interessierte er sich kaum für Umweltfreundlichkeit und Spritverbrauch, sondern eher für Tempo, Preis und Design.
[189] 15
Diesen schrecklichen Juniabend, an dem es gegen zehn Uhr bei mir Sturm läutete, werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Patrick hatte an diesem Tag eine Zusage aus Potsdam bekommen, über die er gründlich nachdenken wollte. Nicht alle Konditionen entsprachen seinen Vorstellungen, vor allem nicht das Gehalt. Aber anstatt mit mir das Für und Wider durchzusprechen, hatte er sich in sein Arbeitszimmer verzogen.
Wer konnte so spät noch etwas von mir wollen? Bestimmt keine Schüler. Etwas verunsichert drückte ich auf den Türöffner und wartete. Von unten schallte markerschütterndes Geschrei herauf, dann polterten Schritte. Steffen stürmte die Treppe herauf, pflanzte sich vor mir auf, reichte mir sein brüllendes Baby und herrschte mich an: »Wo ist Gernot?«
Ganz verdattert presste ich das sich sträubende Kind heftig an mich, damit es mir ja nicht entglitt. Von meinem geschiedenen Mann hatte ich seit langem nichts mehr gehört, wusste nicht, ob er verreist, [190] bei einer neuen Freundin oder im Kino war. Erschrocken über Steffens Erregung, versuchte ich die Situation zu entschärfen und scherzte: »Kannst gern nachschauen, ob sich Gernot bei mir verkrochen hat!«
Aber für flapsige Sprüche war nicht der Moment. Steffen war völlig durchgedreht. Und es dauerte ein paar Sekunden, bis er überhaupt zu einer gestotterten Erklärung fähig war.
Zu meinem Entsetzen erfuhr ich, dass er heute das Ergebnis des Vaterschaftstests erhalten
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