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Kuckuckskind

Kuckuckskind

Titel: Kuckuckskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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dann werde ich jedes Wochenende nach Hause kommen. Oder ich nehme euch nach der Probezeit einfach alle beide mit in den Osten!«
    »Euch?«, frage ich verwundert. »Heißt das, Manuel bleibt erst einmal bei mir?«
    »Wir müssen uns alles gründlich durch den Kopf gehen lassen«, sagt Patrick. »Aber man sollte den Fasan nicht verzehren, bevor er geschossen ist.«
    In den vergangenen vier Monaten haben wir uns zwar leidenschaftlich geliebt, gemeinsam gegessen und im Garten gearbeitet, über Gott und die Welt diskutiert, im Chor gesungen oder uns auch still unserer Lektüre gewidmet, aber nie über die Zukunft gesprochen. Heute war es fast so weit, aber weder Patrick noch ich wagen eine Prognose, ob unser Zusammenleben weiterhin so unproblematisch und harmonisch verlaufen wird.
    Neulich las ich einen Artikel über die berühmte Sängerin Isadora Bernat und verfiel ganz plötzlich in die alte Verzagtheit. »Deine Frau ist so erfolgreich, so schön, so begabt und so groß«, sagte ich, »und ich bin bloß eine kleine Lehrerin…«
    »Genau das brauche ich«, sagte Patrick, »endlich eine kleine Frau! Dann ist das Unglück wenigstens überschaubar.«

[176] 14
    Einen so warmen April und Mai hat es schon lange nicht gegeben. Bereits im März erfreuten uns an die hundert Tulpen, deren Zwiebeln ich im Herbst gesetzt hatte. Der Flieder in Patricks Garten duftete viel zu früh, im Augenblick blühen die Rosen üppiger denn je, überall hört man piepsige Vogelstimmchen und sieht kleine Konvois von Meisenfamilien. Die Eltern fliegen voran, die mutigen Kinder folgen, aber meistens bleibt ein ängstliches Vögelchen zurück und schreit. Die Mutter lockt und lockt, bis die ganze Truppe auf dem nächsten Baum gelandet ist. Der Frühling ist schließlich die Zeit des Brütens und Fütterns.
    Patrick ist heute mit dem Wagen nach Potsdam gestartet. Da es sich um eine weite Strecke handelt, wird er im Hotel übernachten, morgen zum Vorstellungsgespräch antreten, anschließend Schloss Sanssouci besichtigen und am Nachmittag wieder heimfahren. Eigentlich wäre ich ganz gern mitgekommen, aber ich habe noch keine Ferien.
    [177] Früher bin ich mindestens zweimal im Jahr verreist, im Sommer meistens nach Frankreich, in den Oster- oder Herbstferien war jeweils eine andere europäische Stadt an der Reihe. Mit Patrick gab es noch keinen einzigen gemeinsamen Urlaub, was ich bisher nicht direkt vermisst habe. Aber sollen wir den ganzen August nur im heimischen Garten verbringen?
    Über Patricks finanzielle Situation weiß ich kaum Bescheid und möchte auch nicht taktlos danach fragen. Natürlich hat er durch mich eine regelmäßige Mieteinnahme, selbstverständlich zahle ich fürs Essen oder kaufe ein, was dafür benötigt wird. Aber ich weiß nicht genau, ob und wie ihn seine Frau unterstützt, ob er Vermögen besitzt, wie es mit seiner Altersversorgung aussieht, ob er eisern sparen muss und ob eine längere Reise überhaupt möglich ist. Auf keinen Fall will ich ihn mit einer Einladung demütigen, obwohl die Pfingstferien anstehen und ich für mein Leben gern nach Sevilla fliegen würde. Ich könnte es mir ohne weiteres leisten, schließlich habe ich Kollegen, die vom gleichen Gehalt eine fünfköpfige Familie ernähren müssen.
    Ganz abgesehen davon gibt es ja noch Manuel, von dessen Urlaubsplänen wir abhängig sind. Doch der Junge wird im Sommer sechzehn, hat er überhaupt noch Interesse an Angelferien mit Papa?
    [178] Heute habe ich gekocht. Als höflicher Mensch lobte Manuel meine Spiegeleier und den Tiefkühlspinat und schwang sich gleich danach aufs Mofa. Im Gegensatz zu mir hat er an zwei Nachmittagen Unterricht, was bei dem anhaltend schönen Wetter die reinste Zumutung ist.
    Auch ich habe wenig Lust auf Korrekturen, sondern fahre endlich einmal wieder mit dem Rad zum Marktplatz. Die Eissaison hat längst begonnen, und ich habe mir in diesem Jahr noch keine einzige Kugel gegönnt.
    Natürlich ist unter den schattigen Robinien wieder mal kein Platz mehr frei, und ich schaue mich suchend um, ob ich nicht Bekannte entdecke. Tatsächlich sitzt der neue Kollege mit Anselm Schuster an einem Bistrotischchen und guckt den hübschen Mädchen nach, die in diesem Mai schon viel braune Haut zeigen können.
    Obwohl es eng wird, organisieren die Kollegen einen Stuhl, und ich kann mir endlich den begehrten Erdbeerbecher mit Vanilleeis und Sahne bestellen. Anselm und Björn, der Woody-Allen-Typ, sind allerdings schon halb im Aufbruch, denn sie

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