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Kuckuckskind

Kuckuckskind

Titel: Kuckuckskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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umgezogen werden.«
    Das waren völlig neue Aufgaben für mich. Bei einem eigenen Kind hätte es mir natürlich große Freude gemacht, etwas Niedliches auszusuchen. Aber lohnte es sich überhaupt bei Victor, der wahrscheinlich jede Menge Babykleidung besaß?
    [198] Bevor ich das Kaufhaus aufsuchte, fuhr ich an meinem ehemaligen Häuschen vorbei. Um diese Zeit war Gernot normalerweise bei der Arbeit, sein Wagen parkte erwartungsgemäß nicht am Straßenrand. Leider hatte ich den Schlüssel nicht dabei, sonst hätte ich rasch nach dem Rechten geschaut. Es konnte immerhin sein, dass mein Exmann bewusstlos auf den Fliesen lag. Als nächste Station steuerte ich Steffens und Birgits Wohnung an, dort herrschte ebenfalls Totenstille.
    Erst zu Hause kam ich auf die Idee, im jeweiligen Büro der verschwundenen Männer anzurufen. Gernots Sekretärin gab mir bereitwillig Auskunft: Herr Reinold sei zu einer Tagung gefahren und werde erst übermorgen zurückerwartet. Bei der Bank erfuhr ich, dass Steffen sich krankgemeldet habe, mehr konnte oder wollte man mir nicht verraten.
    Zu meiner Verwunderung schien es Patrick Spaß zu machen, das säuerlich riechende Baby im Waschbecken zu baden und hinterher frisch anzuziehen, fast schien es mir, als ob er ganz in seiner neuen Aufgabe aufging.
    »Wenn ich es einrichten konnte, habe ich die Kinder immer versorgt«, sagte er. »Isa hatte ja abends oft einen Auftritt. Es war eine schöne Zeit für mich, an die ich gern zurückdenke. Victor ist im Übrigen [199] alles andere als ein Kostverächter, er erinnert mich irgendwie an unsere Tochter, die sah auch wie eine rundliche Haselmaus aus und hatte ewig Appetit. Wenn die Kleinen kriegen, was sie wollen, sind sie ja meistens zufrieden und freundlich.«
    Zum Ersatz für dein totes Kind kann dieses Leihbaby niemals werden, dachte ich, sagte aber nichts.
    Am Nachmittag war ich mit der Fütterung an der Reihe. Als ich den Kleinen im Arm hielt und ihm das Fläschchen gab, wurde mir mit einem Mal ein bisschen warm ums Herz, gleichzeitig kämpfte ich schon wieder mit den Tränen.
    »Wenn sich in den nächsten Stunden nichts tut, sollte man wirklich die Polizei benachrichtigen«, sagte Patrick. »Da stimmt doch etwas nicht! Ich habe ein ziemlich ungutes Gefühl…«
    Mir ging es genauso. Wir beschlossen zwar, noch ein wenig abzuwarten, aber nicht mehr allzu lange. Manuel hatte versprochen, in der Schule nichts von unserem Familienzuwachs auszuplaudern.
    Vor meinem inneren Auge spielte sich indes ein Horrorfilm ab. Ich sah Birgit mit ihrem Wagen über die Autobahn rasen, Steffen in wilder Verfolgungsjagd hinterher. Am Ende ein grauenhafter Zusammenstoß.
    »Und wenn beide Eltern tödlich verunglückt [200] sind?«, fragte ich Patrick. »Was wird dann aus Victor?«
    »In diesem Fall schaltet sich wohl das Jugendamt ein und sorgt für die Unterbringung bei Verwandten oder in einem Waisenhaus, gegebenenfalls auch für eine Adoption«, mutmaßte Patrick. »Aber eine solche Situation habe ich bisher genauso wenig erlebt wie du. Haben sich die Tuchers eigentlich ein Baby gewünscht, oder war es nicht willkommen?«
    »Birgit war der Meinung, dass sie keine Kinder bekommen könne, daher hat sie nie verhütet. Steffen hätte gern Nachwuchs gehabt, obwohl er das nicht offen zugab. Erst gestern hat er durch einen Gentest erfahren, dass er gar nicht der Vater sein kann.«
    »Ja, das hast du mir bereits erzählt. Aber wer kommt stattdessen als Erzeuger in Frage?«
    Ich musste schlucken. Dann rückte ich mit der Wahrheit heraus und berichtete von Indizien, die alle auf meinen Exmann hinwiesen. Das sei wohl auch der Grund, warum Steffen das Kuckuckskind ausgerechnet mir angedreht habe.
    »Sieht das Kind deinem Mann sehr ähnlich? Immerhin wäre es möglich«, überlegte Patrick, »dass Birgit den Kleinen plötzlich ablehnt, weil sie sich über die tatsächliche Vaterschaft nicht im Klaren war und jetzt Komplikationen befürchtet.«
    »Ich weiß es wirklich nicht«, sagte ich, »aber als [201] ich sie zum ersten Mal auf ihre Schwangerschaft ansprach, machte sie keinen glücklichen Eindruck.«
    »Andererseits«, meinte Patrick, »ist der Muttertrieb bei allen Säugetieren stark ausgeprägt. Ich glaube nicht, dass deine Kollegin zur Spezies der Schildkröten gehört. Jede Mutter wird ihr Baby mitnehmen, wenn sie aus irgendeinem Grund fliehen muss.«
    »Du siehst das zu sehr aus biologischer Sicht«, wandte ich ein.
    Wir grübelten weiter über die Lage nach und hatten

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