Kuckuckskind
habe. Er wollte das Kuckucksei sofort bei seinem hinterhältigen Erzeuger abliefern, aber der habe sich wohl aus dem Staub gemacht.
»Und was sagt Birgit dazu? Und wo ist sie überhaupt?«, fragte ich, und mir wurde plötzlich ganz schlecht, weil ich Blutflecken an Steffens Hemd entdeckte.
Der kleine Victor schrie sich weiterhin die Lunge aus dem Hals.
»Sie ist weg! Ich habe sie geschlagen, sie ist abgehauen! Mein Gott, Anja, ich muss sie suchen, sie tut sich womöglich etwas an…«
Nach diesen Worten raste er die Treppe wieder hinunter, und ich blieb fassungslos mit dem Säugling zurück, der sich jetzt erst recht nicht mehr [191] beruhigen konnte. Tränen rollten ihm über die Wangen, und das zornige Protestgebrüll direkt an meinem Ohr war kaum auszuhalten. Ich stand regungslos auf der Schwelle, versteinert wie Lots Weib. Da hatte also mein Mann meiner Kollegin tatsächlich ein Kind gemacht, und ausgerechnet ich sollte mich jetzt darum kümmern!
In meiner Not lief ich mit Victor auf dem Arm zu Patrick hinunter. Aufgeschreckt durch den Lärm war er bereits aus seiner Höhle hervorgekommen.
Wahrscheinlich verstand er nur die Hälfte, als ich ihm völlig hysterisch die Sachlage erklären wollte. »Was soll ich jetzt machen?«, fragte ich und musste weinen.
»Die Polizei anrufen«, sagte Patrick. »Die Sache stinkt doch gen Himmel! Eine Mutter lässt ihr Kind nicht im Stich.«
»Birgit hat wahrscheinlich einen Schock. Vielleicht besinnt sie sich ja und ist schon wieder auf dem Weg nach Hause. Wenn ich Steffen jetzt die Polizei auf den Hals hetze, rastet er endgültig aus!«
»Gib mir mal das Kleine«, sagte Patrick, »es hat offensichtlich Hunger. Weißt du zufällig, ob es gestillt wird?«
»Keine Ahnung«, sagte ich ratlos und beobachtete verwundert, wie sich der aufgebrachte Victor ein [192] wenig besänftigen ließ. Als erfahrener Papa wiegte Patrick das Baby sanft hin und her und sprach mit leiser Stimme auf es ein.
Ich versuchte unterdessen vergeblich, Steffen oder Birgit telefonisch zu erreichen. »Dieses Gebrüll hätte ich keine fünf Minuten länger ertragen! Wo kriegen wir jetzt eine Milchflasche her?«, fragte ich. »Irgendwie sind wir doch verantwortlich!«
»Pass auf«, sagte Patrick, »ich erkundige mich, welche Apotheke Nachtdienst hat. Dann fahre ich los und besorge ein Fläschchen, Pampers und Milchpulver. Kannst du mir in etwa sagen, wie alt das Kind ist? Und traust du dir zu, eine Weile mit ihm allein zu bleiben?«
Das Alter war mir immerhin bekannt. Als wir die Haustür knarren hörten, hatte ich sekundenlang die trügerische Hoffnung, es wäre Steffen mit der reuigen Birgit im Schlepptau, dabei hatten sie doch gar keinen Schlüssel.
Manuel trat ein, sah seinen Vater und mich mit einem Säugling in der Küche stehen und riss die Augen auf. »Wo habt ihr den denn her?«, fragte er.
»Du kommst wieder reichlich spät«, fuhr Patrick ihn an. »Frag nicht so dumm, sondern hol den alten Waschkorb vom Speicher. Anja, du könntest schon mal Wasser aufsetzen!«
[193] Obwohl wir alle drei im Grunde ziemlich erschlagen waren, entwickelte sich hektische Betriebsamkeit. Patrick sauste mit dem Wagen davon, ich versuchte, den kleinen Victor durch Gesang zu trösten, Manuel schleppte den Waschkorb herbei und polsterte ihn mit einem Kopfkissen aus.
»Wo hast du das Baby gefunden, auf dem Schulklo? Wollt ihr das Kind adoptieren?«, fragte er, und ich erklärte ihm, dass es sich um Birgits Söhnchen handele, das sich nur vorübergehend in unserer Obhut befinde.
»Sie wird es bald wieder abholen«, versicherte ich, ohne die näheren Umstände zu erklären.
»Ich erinnere mich noch genau an den Tag, als meine kleine Schwester geboren wurde«, sagte Manuel. »Ich war völlig hin und weg. Aber Leno war ein braves Mädchen, nicht so ein Schreihals wie dieses Baby.«
»Unter diesen Umständen würdest du wahrscheinlich genauso schreien«, sagte ich entschuldigend. »Es sammelt anscheinend gerade Kraft, um gleich wieder loszulegen. Sieh nur, es schaut uns richtig grimmig an!«
Manuel wischte dem kleinen Kerl ein Kullertränchen ab und steckte ihm probeweise einen Finger in den Mund, was aber nur zu einem neuen Wutausbruch führte.
[194] Schließlich kam Patrick zurück, kochte Flasche und Sauger aus, rührte das gelbliche Pulver an, füllte es in die Milchflasche und stellte sie zum schnelleren Abkühlen in einen Topf mit kaltem Wasser. Gleichzeitig zeigte er mir, wie ich die Windel zu wechseln
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