Kuckuckskind
hatte.
Fasziniert sahen Manuel und ich zu, wie er dem Kleinen endlich die Flasche gab. Victor schien nicht auf die Mutterbrust fixiert zu sein, denn er akzeptierte den Ersatz. Es funktionierte zwar für meine Begriffe mehr schlecht als recht, aber schließlich hatte das Baby doch so viel zu sich genommen, dass es in einen erschöpften Schlaf fiel.
Patrick bettete das Findelkind in den Waschkorb, deckte es mit einem Frotteetuch zu und meinte: »Geh endlich ins Bett, Manuel, und du auch, Anja! Ich nehme ihn zu mir ins Schlafzimmer, schließlich musst du früher aufstehen als ich. Falls deine Freunde heute Nacht noch anrufen oder hier aufkreuzen sollten, kannst du mir ja Bescheid geben.«
Ich versuchte noch ein letztes Mal, einen Kontakt mit Steffen oder Birgit herzustellen. Dann machte ich dankbar von Patricks Angebot Gebrauch, aber geschlafen habe ich in dieser Nacht fast gar nicht. Ich fühlte mich schuldig, ja ich hasste mich geradezu. Dieser verfluchte Vaterschaftstest war meine [195] Idee gewesen, jetzt hatten wir den Salat. Abgesehen von meinen Gewissensbissen hatte ich aber auch schreckliche Angst. Gern wäre ich zu Patrick unter die Bettdecke gekrochen, aber dann hätte ich mein Telefon nicht hören können. Und ich hoffte nichts sehnlicher, als dass sich Birgit bald melden würde.
Nachdem ich gerade doch noch eingenickt war, wurde ich erneut hellwach. Es war vier Uhr in der Frühe, und von unten hörte ich schon wieder das Gebrüll. Patricks Haus ist solide gebaut, aber dieser durchdringende Katzenschrei weckte Tote. Manchmal las man in der Zeitung von Eltern, die durch ein anhaltend brüllendes Baby derart die Nerven verloren, dass sie es für immer zum Schweigen brachten. So schrecklich das ist, irgendwie brachte ich ein gewisses Verständnis dafür auf. Die Natur hat diese Winzlinge mit einem Organ ausgestattet, das einen hilflosen Erwachsenen in den Wahnsinn treiben kann.
Doch es wurde wieder still, weil Patrick anscheinend ein neues Fläschchen zubereitet hatte. Mit meinem Schlaf war es jedoch endgültig vorbei, ich quälte mich mit finsteren Gedanken. Wenn Steffen schon seine Frau blutig geschlagen hatte, was mochte er dann erst mit Gernot vorhaben? Ich musste ihn warnen, bevor ihm der rasende Hahnrei an die Kehle ging. Obwohl sich meine Wut auf meinen [196] Exmann, der den ganzen Schlamassel angerichtet hatte, zusehends steigerte, wünschte ich ihn bloß zur Hölle und nicht ins Krankenhaus. Immerhin verdankte er mir ein paar bleibende Brandnarben, das sollte genügen.
Schon früh um sieben rief ich bei Gernot an, ich wusste ja genau, wann er aufstand.
Um halb acht versuchte ich es erneut und sprach eine verzagte Botschaft auf den Anrufbeantworter: »Hier ist Anja. Bitte melde dich sofort, ich möchte den Grund nicht am Telefon sagen, aber es ist dringend. Und falls Steffen bei dir auftauchen sollte, öffne auf keinen Fall die Tür, lass ihn nicht rein!«
Dann trabte ich hinunter zu Patrick, der relativ entspannt bei einer Tasse Kaffee saß und die Zeitung las. Manuel schien noch im Bett zu liegen.
»Wie war die Nacht? Soll ich der Schulsekretärin sagen, dass ich krank bin? Schläft das Kind?«, fragte ich atemlos.
»Reg dich nicht so auf«, sagte Patrick, »der Kleine pennt. Geh ruhig in die Schule, nimm aber das Handy mit, damit ich dich erreichen kann. Ich postiere mich mitsamt dem Bambino in deiner Wohnung, damit ich das Telefon höre. Aber was sind das nur für Eltern, die ihr Baby einfach aussetzen! Ich habe diese Birgit Tucher kennengelernt, als ich [197] Manuel zur Nachhilfe anmeldete. So etwas hätte ich ihr niemals zugetraut!«
Ich küsste Patrick und machte, dass ich in die Schule kam. Hoffentlich merkte der Gecko nicht, dass es bereits fünf nach acht war. Wahrscheinlich habe ich nie einen schlechteren Unterricht gehalten als an jenem Tag. In allen noch so kurzen Pausen versuchte ich, Birgit oder Steffen zu erreichen; bei Gernot meldete sich auch niemand.
Meine Kollegen unterhielten sich in der großen Pause über den geplanten Betriebsausflug. Es war mir völlig egal, ob die Sportlehrer das Hambacher Schloss mit einem 15 km langen Rundweg oder das Felsenmeer im Lautertal für geeigneter hielten. Nachdem ich ein Rosinenbrötchen erschnorrt hatte, sprach ich per Handy mit Patrick, der anscheinend ganz gut mit dem kleinen Victor zurechtkam.
»Anja, könntest du auf dem Heimweg schnell noch zwei Strampelanzüge besorgen, der Kleine hat sich vollgesabbert und muss dringend
Weitere Kostenlose Bücher