Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kuckuckskind

Kuckuckskind

Titel: Kuckuckskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
Vom Netzwerk:
Überlegungen gewesen. Im Grunde sei er sich völlig sicher, dass es sich um sein eigen Fleisch und Blut handele. Und nichts auf der Welt liebe er mehr als seinen kleinen Victor.
    Mit schlechtem Gewissen radle ich nach Hause. Ich weiß genau, warum dieses Baby so und nicht anders heißt: weil nämlich seine Mutter eine Seminararbeit über Victor Hugo geschrieben hatte. Und der zweite Name wurde offenbar von Steffen beigesteuert, dessen Großvater Augustus Tucher im badischen Landwirtschaftsministerium Karriere gemacht hatte. Aber etwas ist und bleibt mir schleierhaft – warum hat der feige Steffen seine Frau noch nie darauf angesprochen, dass sie ein Verhältnis mit Gernot [183] hatte? Schließlich haben wir doch gemeinsam Birgits Liebesbotschaft auf Gernots Anrufbeantworter abgehört.
    Aus der Garage höre ich ein ohrenbetäubendes Knattern, das ich sofort richtig interpretiere. Manuel hat nicht nur seinem Vater zu einem kahlen Kopf verholfen, er frisiert auch sein neues Mofa. Ich begrüße ihn nicht, sondern setze mich mit einem Buch auf den Balkon. Eigentlich erwarte ich einen Anruf von Patrick, der seine wohlbehaltene Ankunft im Hotel bestätigen will. Benehme ich mich etwa schon wie eine klebrige Ehefrau, die von ihrem Mann ständig Rechenschaft über den jeweiligen Standort verlangt?
    Als das Telefon klingelt, ist es mein neuer Verehrer Björn. »Manchmal sollte man dem Zufall ein wenig auf die Sprünge helfen«, sagt er. »Da du ja leider am Donnerstag unterrichten musst, darf ich dich vielleicht fürs Wochenende mit einem Waldspaziergang und einem gigantischen Eisbecher ködern?«
    Bestimmt hat ihm Anselm verraten, dass ich seit einiger Zeit geschieden und wieder zu haben bin. »Tut mir leid, mein Freund und ich haben bereits andere Pläne«, sage ich ein wenig von oben herab und bin stolz auf meine Lüge, aber ein bisschen schade ist es trotzdem. Doch Björn soll sich nicht [184] einbilden, dass ich es nötig hätte, auf dem Marktplatz Männer anzubaggern.
    Im Übrigen hätte Patrick wohl kaum etwas gegen ein Treffen mit einem Kollegen einzuwenden. Aber warum ruft er mich nicht an? Wo treibt er sich jetzt am Abend noch in Potsdam herum? Langsam dämmert es mir, dass ich grundlos misstrauisch bin. Daran ist Gernot schuld, sage ich mir. Ich muss mir Mühe geben, meine Altlasten nicht auf den neuen Partner zu übertragen.
    Als ich es schon nicht mehr erwarte, meldet Patrick sich doch noch: Er sei in einen Stau geraten und jetzt erst todmüde im Hotel gelandet. Als Erstes werde er sich morgen eine Mütze kaufen, denn hier sei es kälter als bei uns, und er friere am Kopf.
    »Mein armer kahler Liebling«, sage ich, »schlaf gut nach diesen Strapazen! Und ich drücke dir die Daumen, dass es mit der Anstellung klappt!«
    »Dein Mitleid wärmt mir zwar nicht den Kopf, aber immerhin das Herz. Doch das Daumendrücken nehme ich dir nicht ab«, sagt Patrick und hat damit irgendwie recht.
    Trotz meiner Vorbehalte hatte ich – zum ersten Mal – für Patricks Vorstellungsgespräch ein Hemd gebügelt. Wie würde er sich wohl verhalten, wenn man mich in eine andere Stadt versetzte?
    [185] Patrick hat noch eine Bitte. Er habe nicht daran gedacht, die braune Tonne mit Bioabfall an den Straßenrand zu stellen, wahrscheinlich habe Manuel auch vergessen, dass morgen früh die Müllabfuhr anrücke. Ob ich dem Jungen rasch Bescheid geben könne, falls er noch nicht schlafe.
    Es ist halb zehn, Manuel wird noch längst nicht im Bett liegen, ich nehme an, er ist gar nicht zu Hause. Mit der Mülltonne werde ich auch ohne männliche Hilfe fertig, schließlich hat sie zwei Räder.
    Seit Patrick und ich ein Paar sind, schließen wir unsere Wohnungen nicht mehr ab, sondern bloß die Haustür. Als ich unten ankomme, sehe ich Licht im Flur und höre heftiges Debattieren. Manuel und Julian sitzen am Küchentisch mit Weingläsern und -flasche sowie einem Aschenbecher und reden sich die Köpfe heiß. Ich übersehe Nikotin und Alkohol, richte Patricks Auftrag aus und frage, worüber sie sich so aufregen.
    »Wie immer über die Globalisierung«, sagt Julian, »oder besser gesagt, über ihre verheerenden sozialen Folgen. Wir sind uns nicht einig, ob man bei Demonstrationen Gegenstände demolieren darf, Gewalt gegen Personen lehnen wir aber beide ab.«
    »Wie bitte? Wollt ihr wieder mal die Schule in die Luft jagen?«
    [186] Die beiden sehen mich sprachlos an, dann sprudelt Julian empört heraus: »Wenn Sie denken, wir waren das mit der

Weitere Kostenlose Bücher