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Kuckuckskind

Kuckuckskind

Titel: Kuckuckskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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immer mehr den Eindruck, dass etwas Schlimmes passiert sein musste.
    »Neigte diese Birgit zu Depressionen?«, fragte Patrick, doch das konnte ich eigentlich nicht bestätigen und schloss einen Suizid aus. Eher konnte ich mir vorstellen, dass sie Gernots Tagungsort kannte und bei ihm Zuflucht gesucht hatte. Aber auch Steffen konnte bereits unterwegs sein, um Frau und Nebenbuhler gleichzeitig zur Strecke zu bringen.
    Gerade als wir notierten, was wir der Polizei im Einzelnen sagen wollten, läutete das Telefon. Es war Steffen, der hektisch auf mich einredete.
    »Ich habe Birgit bisher nicht gefunden, sie ist weder bei ihrer Verwandtschaft noch bei Freunden. Vielleicht will sie nach Frankreich fahren. Anja, ist [202] es zu viel verlangt, wenn du das Kind noch einen weiteren Tag versorgst?«
    »Du musst sofort eine Vermisstenanzeige aufgeben…«, riet ich. Das habe er bereits getan, sagte Steffen. Und ob ich wirklich nicht wisse, wo Gernot sich aufhalte.
    »Seine Sekretärin hat mir gesagt, dass er auf einer Tagung ist. Er kommt erst in einer Woche zurück«, log ich. »Hatte Birgit ihren Ausweis und genügend Geld dabei? Sie ist doch sicher mit dem Wagen unterwegs, vielleicht gab es ja einen Unfall…«
    »Das wird die Polizei schon herauskriegen«, sagte Steffen düster. »Ich werde auch eine Suchmeldung über das Autoradio veranlassen. Und vielen Dank, dass du dich um den Kleinen kümmerst. Er kann ja nichts dafür.«
    Ich sagte zu Patrick: »Wie Steffen sich das denkt, ist mir schleierhaft. Er weiß schließlich genau, dass ich einen Beruf habe und nicht Tag und Nacht für Birgits Baby sorgen kann. Ohne dich wäre es völlig unmöglich, und ich bezweifle, dass ich dir das noch länger zumuten kann!«
    »Doch, das kannst du«, sagte Patrick und lächelte.
    Allerhand Gedanken schossen mir durch den Kopf: Gerade lernte ich Patrick von einer neuen Seite kennen. Über den Tod seiner kleinen Tochter sprach er fast nie, aber ich ahnte, dass die Wunde [203] längst noch nicht abgeheilt war. Nun bekam er plötzlich ein fremdes Kind anvertraut, hing viel zu schnell sein Herz daran und musste es demnächst wieder herausrücken. Ganz zaghaft keimte in mir die Hoffnung, dass mein größter Wunsch doch noch in Erfüllung gehen könnte. Wenn Patricks Brutpflegetrieb durch den kleinen Victor angeregt wurde, bekam ich vielleicht noch eine Chance, bevor mein Verfallsdatum abgelaufen war.
    Auf einmal betrachtete ich Victors Anwesenheit mit anderen Augen, ja hielt sie sogar für ein gutes Omen.

[204] 16
    Bereits am nächsten Tag rief Gernot an. Ich hatte mein tägliches Unterrichtspensum gerade beendet und zum Abschluss noch drei Schüler zur Schnecke gemacht, die auf dem Flur eine Coladose herumkickten. Nun wollte ich eigentlich meine Ruhe und mit Patrick und Manuel zu Mittag essen. Über diese neuen Gewohnheiten war mein Exmann natürlich nicht informiert.
    »Ich dachte, du kommst erst morgen von deiner Tagung zurück…«, sagte ich und überlegte fieberhaft, wie ich ihm alles erklären sollte.
    »Morgen muss ich wieder ins Büro«, sagte Gernot, »ich war ein paar Tage in Berlin und bin erst vor zwei Stunden in Frankfurt gelandet. Wo drückt denn der Schuh?«
    Wie sollte ich ihm die komplizierte Sachlage erklären? Um aus lauter Befangenheit keine Fehler zu begehen, bat ich ihn um einen Besuch.
    »Bin in fünf Minuten bei dir«, sagte er, »wenn du Hilfe brauchst, kannst du dich immer auf mich verlassen.«
    [205] Viel eher wird er Hilfe brauchen, schien mir. Nach kurzem Abwägen hatte ich mir eine Taktik zurechtgelegt. Ich sagte rasch Patrick Bescheid, trug den schlafenden Victor nach oben und wartete. Gernot traf tatsächlich bald ein und setzte sich laut niesend auf die Récamière.
    »Leider bin ich grauenhaft erkältet«, sagte er und schneuzte sich ausgiebig. »Die Klimaanlagen in Hotels und Flugzeugen sind mir noch nie bekommen. Aber nun raus damit! Was hast du auf dem Herzen?«
    Er blickte mich erwartungsvoll an, ich wies wortlos mit dem Finger auf den Waschkorb in der Ecke. Gernot wurde neugierig, stand auf und sah hinein. Victor verhielt sich vorbildlich. Seitdem er regelmäßig sein Fläschchen bekam, war er ein friedliches Baby.
    »Da liegt es, das Kindlein, auf Heu und auf Stroh!«, sang ich.
    Gernots Gesicht verzog sich zu einem einzigen Fragezeichen. »Was soll das?«, sagte er.
    »Das ist dein Sohn«, sagte ich nicht ohne Pathos.
    Er starrte mich ein paar Minuten fassungslos an, dann schüttelte er vehement den

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