Kuckuckskind
erheben und einer von uns beiden eine Weile nicht arbeiten geht.«
»Klar«, sagt Patrick, »das liegt doch auf der Hand. Du hast im Gegensatz zu mir einen sicheren Job.«
[236] Heute ist es wolkig und trotzdem brütend heiß, ein Gewitter liegt in der Luft. Vielleicht bin ich deswegen ein bisschen kreislauflabil und weinerlich. Ich schaue in den Himmel und hoffe auf Regen, nichts als strömenden Regen.
»Ich habe mir immer ein Kind gewünscht«, sage ich nach einer langen Pause, »aber ein eigenes!«
»Inschallah! In diesem Haus ist Platz für alle«, sagt Patrick und nimmt mich in den Arm.
Für ein paar Sekunden spüre ich nur Geborgenheit und reines Glück.
Trotzdem quälen mich in dieser Nacht Alpträume. Birgit erscheint mir wie im Märchen und fragt: »Was macht mein Kind, was macht mein Reh?« Ich werde wach, und mein Kissen ist tränennass. Sie ist tot, und ich habe sie auf dem Gewissen. Hätte ich Steffen nicht immer wieder aufgehetzt und geradezu mit der Nase auf die Möglichkeit eines Gentests gestoßen, dann würde sie sicherlich noch leben.
Apropos Vaterschaftsnachweis. Ob die Beamten bei ihrer Razzia auch das Schreiben des Labors entdeckt haben? Steffen hat es bestimmt in einer Schublade verwahrt. Dann müssten sie spätestens jetzt wissen, dass er nicht der Vater des Kindes ist.
Als uns ein Polizist noch am Abend das Kinderbett anlieferte, überreichte er uns auch ein gelbes [237] Heft, in dem Victors Impfungen und Vorsorgetermine vom Arzt eingetragen wurden; eine weitere Untersuchung steht bald an. Und das beweist doch, dass sie alles gründlich durchsucht haben.
Unausgeschlafen und erschöpft gehe ich in die Schule, der einzige Trost ist, dass morgen die Ferien beginnen. Im Lehrerzimmer herrscht helle Aufregung, es wird erregt diskutiert, mehrere Kollegen stürzen sich auf mich. Warum ich nicht gesagt habe, dass sich Birgits Baby bei mir befindet? Wie sie das erfahren haben, ist mir zwar nicht klar, aber jetzt muss ich wohl mit der Wahrheit herausrücken.
Per Zufall hat ein Mathelehrer im Internet die Vermisstenanzeige der regionalen Polizei entdeckt und die Seite ausgedruckt. Nun kommt nach und nach heraus, dass auch andere Kollegen – genau wie ich – polizeilich vernommen wurden. Sie haben die Sache nicht an die große Glocke hängen wollen.
»Befragung des sozialen Umfelds nennt man das«, belehrt uns der Referendar.
»Zum Stand der bisherigen Ermittlunge…«, liest Anselm Schuster vor. Ich reiße ihm das Blatt aus der Hand.
[238] Familienname: Tucher
Vorname: Birgit Margarete
Alter: 38 Jahre
Vermisst seit: 4. Juni 2007
Augenfarbe: grün
Haarfarbe: kastanienbraun
Bekleidung am Tag des Verschwindens: Jeans und schwarzes Shirt
Raucht blaue Gauloises ohne Filter
Umfangreiche Suchmaßnahmen verliefen bis jetzt ergebnislos. Der Pkw der Vermissten wurde am 23. Juli in einem Allgäuer See von Tauchern geborgen. Die Blutspuren werden zurzeit noch untersucht. Es ist zu vermuten, dass Birgit Tucher Opfer einer Straftat wurde. Ihr Ehemann liegt nach einem Autounfall mit einem schweren Schädel-Hirn-Trauma auf der Intensivstation und wurde in ein künstliches Koma versetzt.
Mir wird schwindelig, die Buchstaben verschwimmen vor meinen Augen, ich sehe nicht mehr, unter welchem Namen die zuständige Sonderkommission agiert.
Mutter Natur zieht mich auf einen Stuhl. »Sapperlot! Das Mädchen kollabiert!«, sagt sie und ruft in die Runde: »Schnell ein Glas Gänsewein für die Anja!«
[239] Vor Aufregung hätte sie mich beinahe geduzt. Beim zweiten Gong fragt sie: »Geht’s wieder?« Und ich nicke.
»Ich muss in meine Klasse«, sagt Mutter Natur. »Bleiben Sie lieber noch einen Moment sitzen. Übrigens habe ich die Kollegin Tucher besucht, als das Baby etwa zwei Wochen alt war. Ich hätte nicht erwartet, dass sie schon wieder raucht! Sie schien nicht gerade eine glückstrahlende Mutter zu sein, machte eher einen verzagten Eindruck. Allerdings hatte sie sich eine garstige Influenza eingefangen, vielleicht war das der Grund. – Hoffentlich ist es bei Ihnen nicht etwas Schlimmeres! Gehen Sie am besten heute noch zum Arzt!«
Natürlich bleibe ich keine zwei Minuten im Lehrerzimmer, sondern widme mich pflichtgemäß meinen Schülern; heute muss ich Zeugnisse verteilen und adieu sagen, denn im neuen Schuljahr bin ich nicht mehr ihre Klassenlehrerin.
Manuel betrachtet mich mit wissendem Blick, als ich mit künstlicher Forschheit eintrete. Wahrscheinlich sieht er mir an, dass ich lieber
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