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Kuckuckskind

Kuckuckskind

Titel: Kuckuckskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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habe ich überhaupt nichts zu tun, und ich weiß auch nicht, ob man es so nennen soll«, sagt sie. »Aber ich könnte mir denken, dass es manchmal Hinweise gibt, ob jemand alle Brücken abgebrochen hat. Oder es findet sich so etwas wie ein Abschiedsbrief.«
    »Und was wäre, wenn Birgit Tucher sich tatsächlich das Leben genommen hätte?«, frage ich.
    »Dann hat der Kleine zum Glück noch seinen Vater«, sagt sie, erhebt sich und lobt uns für die vorbildliche Säuglingspflege. Und zu Patrick gewandt fügt sie hinzu: »Man merkt sofort, dass Sie Erfahrung haben.«
    Als wir wieder allein sind, reichen wir uns wie Komplizen die Hände.
    »Manuel wird sich bestimmt freuen«, sagt Patrick. »Der Altersunterschied zwischen ihm und Victor ist so groß, dass er gar nicht auf die Idee kommt, eifersüchtig zu sein. Übrigens hast du deine Post noch nicht aus dem Briefkasten genommen…«
    Meistens sind es Rechnungen und Prospekte, die [229] ich erhalte; meine Freundinnen und meine Mutter rufen lieber an. Diesmal ist es ein Umschlag ohne Absender und mit dem Vermerk Streng vertraulich , der meine Neugierde weckt und den ich lieber in der eigenen Wohnung öffne. Es ist ein Schreiben des Labors, dem ich bereits vor geraumer Zeit einen stattlichen Betrag überweisen musste. Ich lese zuerst das Resümee: »Die Vaterschaft kann mit 100%iger Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden.«
    Irgendwie bin ich doch erleichtert. Es war mir stets eine unangenehme Vorstellung, ausgerechnet Gernots Söhnchen zu hätscheln und zu versorgen. Jetzt hat Victor zwar einen unbekannten Vater, aber er ist auf jeden Fall Birgits Kind. Damit kann ich ganz gut leben, ja ich verspüre sogar eine gewisse Genugtuung und außerdem ein wenig Mitleid mit meiner früheren Freundin. Sie musste sich seit Monaten mit der Ungewissheit herumquälen, von welchem Papa ihr Baby abstammen würde. Mit viel Glück konnte es ein kleiner Steffen werden, aber anscheinend hatte sie sich auch mit anderen Männern eingelassen. Mein ganzer Hass, den ich während des letzten Jahres auf Birgit entwickelt habe, verfliegt allmählich, und ich denke an die vielen Stunden, in denen wir gemeinsam gelacht und gealbert haben.
    Der kleine Victor ist mittlerweile ein munteres Menschenkind mit bestem Appetit, was er sicherlich [230] seiner Mama zu verdanken hat. Wenn er nach ausgiebigem Schlaf erwacht, fängt er nicht etwa an zu weinen, sondern wendet und betrachtet seine Händchen oder brabbelt zufrieden vor sich hin. Er fühlt sich wohl bei uns und zeigt es durch lustvolles Quietschen. Nur am ersten Abend hat er so grauenhaft geschrien, dass ich schier durchdrehte. Seither meldet er sich zwar gelegentlich mit kräftiger Stimme zu Wort, aber er ist stets im Recht: Hunger, volle Windeln und ein fälliges Bäuerchen sind die drei Probleme, die man schnell aus der Welt schaffen kann.
    Bis zu den Sommerferien ist es nicht mehr lange hin; Zeugniskonferenzen, Sommerfeste und Ausflüge stehen jetzt auf dem Programm. Unsere Schüler haben zum Teil große Pläne, viele fahren mit den Eltern ins Ausland, manche werden auch zwecks Verbesserung ihrer Sprachkenntnisse ganz allein in die Fremde geschickt.
    Manuel hat ein Angebot seiner Mutter erhalten, über das er nachdenkt. Während der Theaterferien ist sie als Sängerin auf einem Kreuzfahrtschiff engagiert und möchte ihren Sohn als Begleitung mitnehmen.
    »Er wird sich zu Tode langweilen«, sagt Patrick, »auf einem Luxusdampfer gibt es kaum Gleichaltrige. Die meisten Passagiere sind reiche alte Säcke.«
    [231] »Aber andererseits«, gebe ich zu bedenken, »wann schippert man sonst schon die norwegische Küste entlang bis zum Nordkap? Ich ließe mich nicht zweimal bitten!«
    »Dann fahr du doch mit Isa«, sagt Patrick.
    Manuel hat heute nach langem Zaudern zugesagt.
    »Ich fahre nur mit, um soziologische Studien zu betreiben«, behauptet er. »Sonst habe ich ja kaum die Gelegenheit, die upper class zu beobachten. Und sollte ich auf einer einsamen Insel stranden, dann habe ich immer noch meinen iPod.«
    Patrick und ich werden also mit Victor zu Hause bleiben. Mit einem Baby hat man kaum Alternativen, aber wir beklagen uns nicht. Es gibt im Übrigen genug zu tun.
    Die Sauerkirschen sind schon lange reif. Bevor die Vögel sich alles holen, haben wir – leider ohne Manuels Hilfe, der mal wieder für ein paar Stunden fort ist – zwei Körbe voll gepflückt. Patrick will Marmelade einmachen; von französischen Freunden habe ich überdies ein

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