Kuckuckskind
der Nähe von Draguignan zu Hause sein. – Wie haben Sie eigentlich erfahren, dass das Baby bei mir gelandet ist?«
»Von Frau Tuchers Schwester in Brüssel. Wir hatten sie angerufen und gefragt, ob Birgit möglicherweise zu ihr gefahren ist. Seit gestern macht uns diese Dame telefonisch die Hölle heiß. – Nun, ich möchte Sie nicht länger aufhalten, meine letzte Frage: Wer kümmert sich eigentlich im Augenblick um das Kind oder auch dann, wenn Sie in der Schule sind?«
»Mein Lebensgefährte«, sage ich. Dieses stolze Wort habe ich zum ersten Mal in den Mund genommen, es hört sich gut an.
Zu Hause öffnet mir Manuel die Tür, noch bevor ich den Schlüssel herausgekramt habe. Er grinst und legt den Finger an den Mund.
[225] »Kannst du schweigen wie ein Grab? Dann zeig ich dir mal was Witziges!«
Er führt mich in seinem Zimmer direkt vor den PC . Dort bekomme ich einen Videoclip aus dem Internet vorgeführt. Der Gecko wurde heimlich per Handy gefilmt, wie er im Geschichtsunterricht eine schlafende Schülerin bombardiert. Darunter steht: »Unser Gutmensch sollte seine Kreide lieber selber fressen.«
Manuel lacht sich ins Fäustchen. Mir ist nicht zum Lachen zumute. »Wer hat denn das verbrochen?«, frage ich streng; Manuel weiß oder sagt es nicht.
» Gutmensch wird zunehmend pejorativ gebraucht«, sinniere ich.
Manuel schaut mich fragend an, er kennt diesen Ausdruck nicht.
»Wenn ein Begriff mit der Zeit eine schlechtere Bedeutung erhält, dann handelt es sich um eine Pejoration«, doziere ich. »Zum Beispiel hatte ich als kleines Mädchen eine Negerpuppe , und niemand fand etwas dabei. Heute müsste man wohl farbige oder afrikanische Puppe dazu sagen…«
Manuel hält sich im Spaß die Ohren zu.
Aus Patricks Schlafzimmer tönt Gesang. Mein braver Lebensgefährte versucht, den Kleinen mit einer [226] Löwe-Ballade einzulullen. Ich ziehe lautlos die Tür auf, Patrick schleicht sich heraus. »Wie war’s bei den Bullen?«, flüstert er.
»Ich erzähle dir alles, sobald wir mit einem Glas Wein auf der Terrasse sitzen«, sage ich. »Aber mach dich darauf gefasst, dass sich demnächst das Jugendamt meldet.«
Patrick beeilt sich, eine Flasche aus dem Keller zu holen, und ich beginne mit meinem Bericht.
»Jugendamt! Na und?«, sagt er. »Die werden doch glücklich sein, dass es Victor so gut bei uns hat. Du hast mir aber nicht erzählt, warum Steffen in der Klinik liegt.«
»Ein Unfall. Leider habe ich vergessen, nach den Einzelheiten zu fragen. Und in welches Krankenhaus er gebracht wurde, habe ich auch nicht erfahren. Könntest du dir vorstellen, dass er absichtlich gegen einen Baum gerast ist?«
»Ich kenne ihn doch gar nicht«, sagt Patrick.
Manuel betritt die Bühne, trinkt einen Schluck aus dem Glas seines Vaters und fragt ihn: »Weißt du eigentlich, was Pejoration bedeutet?«
Patrick sieht mich hilfesuchend an. »Wahrscheinlich das Gegenteil von Melioration«, sagt er, »aber ich sehe an deinem tückischen Blick, dass du mich verarschen willst.«
[227] Nach telefonischer Anmeldung besucht uns die Dame vom Amt für Jugend und Soziales.
»Wollen Sie den Kleinen gleich mitnehmen?«, frage ich erregt.
»Das Sorgerecht liegt zwar in solchen Fällen bei uns, aber eine Inobhutnahme ist nur bei einer dringenden Gefahr für das Wohl des Kindes erforderlich«, antwortet sie paragraphensicher. Dann inspiziert sie unseren Victor und zeigt sich hochzufrieden, denn er ist wohlgenährt, sauber und vergnügt. Sie hat absolut nichts dagegen, dass er bei uns bleibt, bis sich die Sachlage etwas klärt. »Frau Tuchers Schwester in Brüssel kann den Kleinen nicht zu sich nehmen, sie hat einen aufreibenden Beruf. Die Geschwister von Herrn Tucher zeigten sich völlig desinteressiert. Außerdem geht es dem Kind, denke ich, im Augenblick so gut, dass ich ihm eine nochmalige Ortsveränderung ungern zumuten möchte«, meint sie.
»Wir haben allerdings ein kleines Problem«, sagt Patrick. »Es wäre ja Unsinn, wenn wir für die kurze Zeit größere Anschaffungen machen müssten. Ist es vielleicht möglich, aus der elterlichen Wohnung das Bettchen, den Kinderwagen und zusätzliche Kleidung zu beschaffen? Wir haben weder einen Schlüssel noch eine Vollmacht.«
Das könne sie ganz unbürokratisch lösen, sagt die vernünftige Frau, die Polizei wolle die Wohnung der [228] Tuchers unter die Lupe nehmen, sie werde eine Beamtin um Hilfe bitten.
»Soll eine Hausdurchsuchung stattfinden?«, frage ich neugierig.
»Damit
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