Kuckuckskind
wollte Sie sowieso noch einmal sprechen. Sie haben doch Ferien? Dann kommen Sie am besten heute noch vorbei, von mir aus gleich jetzt.«
Wenig später sitze ich vor ihm. Seine dreieckigen Augenbrauen waren mir schon beim ersten Gespräch aufgefallen, jetzt starre ich gebannt auf das struppige Gebüsch, das beim Reden ständig in Bewegung bleibt.
»Herr Tucher liegt in der Ludwigshafener Unfallklinik und ist wieder bei Bewusstsein, Sie dürfen ihn auch kurz besuchen. Aber wir haben ein Problem: Er leidet unter retrograder Amnesie, das heißt, er kann sich an nichts erinnern.«
»Um Gottes willen, kennt er am Ende seinen eigenen Namen nicht mehr?«
»Nein, nein«, sagt der Beamte, »es handelt sich [249] nur um eine relativ kurze Zeitspanne vor seinem Unfall. Er weiß zum Beispiel nicht mehr, dass er Ihnen das Baby übergeben hat…«
»Ist das vielleicht ein Trick?«, frage ich. »Oder will er verdrängen, was er nicht wahrhaben und ertragen kann?«
Ich werde aufmerksam angeschaut, die markanten Brauen verschieben sich ganz nach oben.
»Wir wissen inzwischen, dass Herr Tucher einen Vaterschaftstest machen ließ und das Ergebnis am 4. Juni erfuhr. Vermutlich am späten Nachmittag, als er von der Bank nach Hause kam. Verehrte Frau Reinold, Steffen Tucher hat Ihnen das Kind offenbar übergeben, weil es nicht sein eigenes ist. Sie haben uns diese wichtige Tatsache verschwiegen. Da Sie ja eine gute Freundin seiner Frau sind, wollte Herr Tucher bestimmt von Ihnen wissen, wer als Erzeuger in Frage käme?«
Nun werde ich rot, das Verhör wird mir peinlich. Hat es überhaupt einen Zweck, etwas vor der Polizei zu verheimlichen? An die Moral der Lehrer stellt man leider besonders hohe Ansprüche. Trotzdem will ich meinen früheren Lebenspartner nicht verraten, denn Gernot ist ja tatsächlich nicht Victors Papa.
»Keine Ahnung«, sage ich.
»Okay«, sagt er, »lassen wir dieses Thema. Sie fragen, ob der Gedächtnisverlust ein Trick sein [250] könnte. Theoretisch ja, aber andererseits nicht zu beweisen. Die Ärzte bestätigen, dass dieses Phänomen nach einem schweren Hirntrauma durchaus nicht selten vorkommt. Zum Glück kehrt die Erinnerung in vielen Fällen nach einiger Zeit zurück.«
»Und wie gedenken Sie weiter vorzugehen?«, frage ich neugierig, obwohl ich keine Antwort erwarte.
»Herr Tucher ist jetzt zwar ansprechbar, aber noch lange nicht über den Berg«, sagt der Kommissar ausweichend.
»Ich nehme an, er kommt dann ins Untersuchungsgefängnis«, nehme ich einen zweiten Anlauf.
Er lächelt. »Zerbrechen Sie sich nicht unseren Kopf. Aber leider gibt es tatsächlich Hinweise, dass im Tucher’schen Haus Blut geflossen ist. Können Sie sich noch genau erinnern, was Steffen Tucher für einen Eindruck machte, als er Ihnen das Baby brachte?«
»Mir sind ein paar Flecken auf seinem Hemd aufgefallen«, sage ich. »Und er gab zu, dass er seine Frau geschlagen hatte. Das Kind schrie zum Steinerweichen, es war eine Situation, die mich völlig überforderte. Steffen war sehr erregt und im Nu wieder verschwunden. Glauben Sie, dass Birgit noch am Leben ist?«
»Wieso fragen Sie das? Wir haben bis jetzt keine Leiche gefunden«, sagt er.
[251] »Könnte es sein, dass es sich bei Steffens Unfall um einen Selbstmordversuch handelt?«
»Das kann man nicht ausschließen.«
»Und was wird mit dem Kleinen?«, frage ich.
Er schreibt mir Adresse und Telefonnummer von Birgits Schwester auf und verabschiedet sich.
Kurz vor unserem Haus treffe ich auf Patrick, der Victor spazieren fährt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass mein Papa sich vor 39 Jahren dazu herabgelassen hätte, aber heute sieht man überall stolze Väter mit Kinderwagen. Patrick und Victor strahlen mich beide so fröhlich an, dass mir das Herz aufgeht.
»In den letzten zwei Jahren gehörte ich allmählich zur Spezies der couch potatoes . Seit wir die Karre haben, bin ich täglich unterwegs«, sagt Patrick. »Und das tut sowohl mir als auch unserem kleinen Kuckuck sehr gut.«
»Wo sind eigentlich Lenores Buggy und ihr Bettchen geblieben?«, frage ich.
»Alles verschenkt«, sagt Patrick. »Sieh nur, Magnolien blühen im Spätsommer gelegentlich noch einmal!«
Im Nachbargarten steht ein großer alter Baum, zwischen urwaldgrünem Blattwerk schimmern rosa Blüten wie Flamingos. Für einen kurzen Moment [252] verharre ich wie verzaubert, denn dieser zweite Frühling lässt Hoffnung in mir aufkeimen.
Meine Mutter hat die Neuigkeiten aus der Zeitung erfahren.
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