Kuckuckskind
ausgezeichnetes Rezept für Clafoutis , das ich ausprobieren will.
Patrick hat Victor auf eine Patchworkdecke gebettet, die anscheinend noch von seinen eigenen Kindern stammt; ich achte darauf, dass keine direkte Sonne auf die zarte Babyhaut fällt. Dann sitzen [232] wir nebeneinander auf der Gartenbank und spucken Kirschkerne auf den Rasen, unsere Füße sind nackt und erdig, die Fingernägel und Münder blaurot. Ein Jungvogel hüpft seinem Vater hinterher und bettelt um Würmer. Die Stimmung ist so entspannt und verträumt, dass ich mich zum ersten Mal traue, meinen Partner nach seiner kleinen Tochter zu fragen. Woran ist Lenore so früh gestorben?
»Sie hatte einen angeborenen Herzfehler«, sagt Patrick und hebt Victors Greifring auf. »Eine Operation war unbedingt nötig, sollte aber erst durchgeführt werden, wenn das Kind kräftig genug war. Wir hatten große Angst davor, denn wir kannten das hohe Risiko. Ohne Operation war die Lebenserwartung allerdings sehr gering, so dass wir vor einer schwierigen Entscheidung standen und immer neue Gründe für eine Verschiebung des Termins fanden. Gegen den Willen meiner Frau habe ich unsere Leno schließlich nach London in eine Spezialklinik gebracht, es war ihre einzige Chance. Unsere Tochter starb während des Eingriffs, und Isa konnte mir niemals verzeihen.«
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Eine Beamtin teilt uns telefonisch mit, sie sei am Nachmittag im Haus der Tuchers anzutreffen; dort will sie persönlich dafür sorgen, dass uns alles Nötige für Victor ausgehändigt wird. Da ich zur Lehrerkonferenz muss, will Patrick hinfahren, Manuel soll unterdessen auf Victor aufpassen.
Auf der Heimfahrt von der Schule bilde ich mir ein, den Urin meiner zuckerkranken Großmutter zu riechen. Eine peinliche Sinnestäuschung, denn durch das offene Fenster weht der Duft blühender Lindenbäume, den ich eigentlich immer geliebt habe. Das wunderschöne Gedicht von Ina Seidel mit dem Titel Trost kommt mir wieder in den Sinn; meine Mutter pflegte es oft aufzusagen.
Unsterblich duften die Linden –
Was bangst du nur?
Du wirst vergehn, und deiner Füße Spur
Wird bald kein Auge mehr im Staube finden.
Doch blau und leuchtend wird der Sommer stehn
Und wird mit seinem süßen Atemwehn
[234] Gelind die arme Menschenbrust entbinden.
Wo kommst du her?
Wie lang bist du noch hier?
Was liegt an dir?
Unsterblich duften die Linden. –
Heute ist die Autorin fast vergessen. Sollte man diese Zeilen gelegentlich im Unterricht durchnehmen? Wohl besser nicht, da die Dichterin durch ihre fatale Nähe zum Dritten Reich zur persona non grata wurde. Einmal Deutschlehrerin, immer Deutschlehrerin, tadele ich mich selbst. Andere Dinge sind doch wohl wichtiger im Leben. Was liegt an mir? Wenn ich keine Nachkommen habe, bleibt auch nach meinem Tod keine Spur…
Bei meiner Rückkehr steht ein teurer Kinderwagen im Hausflur. Anscheinend hat Patrick fast alles in seinem Auto unterbringen können, nur das Bettchen soll noch im Laufe des Tages von einer Grünen Minna nachgeliefert werden. Darüber sind wir am meisten froh, denn Victor passt kaum mehr in den Waschkorb. Ich staune, wie viele Tüten mit Babykram sich in Patricks Schlafzimmer angehäuft haben. Warum hat er nicht gleich die ganze Wickelkommode mitgenommen?
»Viel Zeit hatte ich nicht, ich durfte nur rasch im Kinderzimmer alles zusammenraffen, und dabei [235] wich mir die Polizistin nicht von der Seite. Sie hat mir aber immerhin die Plastikwanne aus dem Badezimmer geholt. Beim Hinausgehen sah ich, dass in der Küche ein großes Aufgebot versammelt war, auch ein Fotograf und eine Frau im weißen Schutzanzug. Die ganze Szene hatte etwas Unwirkliches, fast wie in einem Film. Drei Dienstwagen mit Blaulicht auf der Straße und ein rot-weißes Plastikband mit dem Aufdruck POLIZEIABSPERRUNG vor der gesamten Hausfront – gruselig, nicht wahr?«
»Haben sie dir irgendetwas Neues gesagt?«
»Natürlich nicht. Oder vielleicht doch – die Polizistin meinte, man werde jetzt eine ganz große Suchaktion starten, weil Birgits Wagen gefunden wurde.«
»Was heißt ganz groß?«, frage ich.
Patrick weiß es nicht. Vielleicht mit Spürhunden, mutmaßt er. Ihm kommt es so vor, als ob Birgit längst nicht mehr am Leben sei. Allmählich müssten wir uns mit dem Gedanken befassen, ob wir Victor für immer behalten möchten. Er sieht mich fragend an.
»Willst du es denn? Rein theoretisch ist es ja nur möglich«, sage ich etwas gedehnt, »wenn seine Angehörigen keinen Anspruch auf ihn
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