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Kuckuckskind

Kuckuckskind

Titel: Kuckuckskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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doch sehr im Wege stünde? Ich kann es mir nur schwer vorstellen; wie alle Mütter wird sie ihren Kleinen ins Herz geschlossen haben, egal ob Steffen nun der Vater ist oder ein anderer.
    Egal? Und wenn nun Victor die Folge einer Vergewaltigung sein sollte?
    Kann man ein solches Kind überhaupt lieben? Ich [244] habe gelesen, dass die meisten bosnischen Frauen, die nach einem Kriegsverbrechen schwanger wurden und keine Möglichkeit zu einem Abbruch hatten, dieses Kind gleich nach der Geburt weggaben und es nie mehr sehen wollten.
    Abgesehen davon, ob Birgits Mann nun der Täter ist oder nicht, mich interessiert am meisten, was mit Victor wird. Offiziell ist Steffen sein Vater und hat das Sorgerecht.
    Nachdem ich den Artikel dreimal gelesen und Birgits Foto unter die Lupe genommen habe – es wurde bestimmt noch vor ihrer Schwangerschaft aufgenommen –, klingelt mein Telefon. Gernot ruft vom Büro aus an.
    »Hast du schon die Zeitung gelesen?«, fragt er hastig.
    »Ich bin gerade dabei«, sage ich. »Eines möchte ich allerdings sofort wissen: Hat dich die Polizei bereits ausgehorcht?«
    »Schon längst«, sagt er. »Ich habe aber nichts von deinem absurden Verdacht erzählt. Ich bin nicht der Vater dieses Kindes, und damit basta.«
    Inzwischen habe ich es ja schwarz auf weiß, aber das verrate ich nicht.
    »Gernot, ich habe nie an deinen Worten gezweifelt. Aber haben die Beamten eine Ahnung, dass du [245] im letzten Sommer mit Birgit nach Frankreich gefahren bist?«
    »Ich werde den Teufel tun, ihnen das auf die Nase zu binden«, sagt er. »Und ich hoffe sehr, dass du mich da nicht reingezogen hast.«
    Da kann er beruhigt sein. Doch was hält er von Steffens Rolle in diesem Spiel?
    »Anja, das Wort Spiel ist völlig verfehlt. Es handelt sich um eine Tragödie. Im Nachhinein gebe ich dir recht, Steffen wollte mich wahrscheinlich ebenfalls umbringen, als er dir an jenem Abend das Baby brachte.«
    Anscheinend ist er sicher, dass Steffen ein Mörder ist. Wir verabschieden uns diesmal etwas freundlicher und mit dem Versprechen, einander auf dem Laufenden zu halten.
    Um elf lässt Patrick sich endlich bei mir blicken, noch im Schlafanzug und unrasiert. Er gibt mir einen flüchtigen Kuss, fragt nach meiner Nachtruhe und lächelt süffisant, als ich demonstrativ gähne.
    Victor posiert auf dem Eisbärfell meiner Mutter und streckt sofort die Arme nach seiner wichtigsten Bezugsperson aus. Ich reiche dem stolzgeschwellten Patrick die Zeitung und setze neues Kaffeewasser auf.
    Mit dem Baby auf dem Arm liest Patrick nun die [246] Nachrichten und betrachtet Birgits Foto ausgiebig.
    »Ich kann mich gar nicht mehr genau erinnern, wie Manuels Nachhilfelehrerin aussah«, sagt er. »Ich glaube, ich habe sie nur einmal gesehen. In der Tat eine hübsche Frau, aber unser Victor wird auf jeden Fall noch viel schöner als sie.«
    Einen kleinen Stich empfinde ich nun doch: schon wieder einer, der Birgit für besonders attraktiv hält. Dagegen fühle ich mich wie ein Blaustrumpf. Zu allem Überfluss habe ich heute – aus Angst, Victor könnte mich vollsabbern – mein ältestes graues Sweatshirt angezogen. Und leider kriege ich immer genau zu Ferienbeginn einen Pickel auf der Stirn und meine Tage.
    »In letzter Zeit bist du aber nahe am Wasser gebaut«, bemerkt der Langschläfer und hält mir die Tasse hin. »Vielleicht solltest du mal ein paar Tage Urlaub machen.«
    Nichts lieber als das. Aber mit einem Baby, das um vier Uhr morgens die Flasche braucht, kann eine Übernachtung im Hotel zum Horrortrip werden. Ich werfe einen scheelen Blick auf unseren Augenstern, der mit engelhafter Unschuldsmiene auf meine Récamière speichelt.
    »Er kriegt vielleicht den ersten Zahn, obwohl es noch ein bisschen früh dafür ist«, entschuldigt [247] Patrick den Kleinen, lässt ihn auf den Knien reiten und pfeift ein paar Töne aus Bonanza . »Übrigens werde ich das Schaukelpferd vom Speicher holen und ein wenig herrichten. Da habe ich als Knirps schon drauf gesessen. Leno wäre vielleicht ein richtiges Pferdemädchen geworden, denn sie hockte stundenlang auf dem hölzernen Ross und nannte es Hoppo-Poppo.«
    Manchmal ist es nicht ganz einfach, einen Mann mit Vergangenheit zu lieben, aber ich habe die Hoffnung, dass die Lenore seines Herzens irgendwann ersetzt werden kann.

[248] 19
    Kurzentschlossen rufe ich heute früh bei der Polizei an. Ich will wissen, in welchem Krankenhaus Steffen liegt.
    »Gut, dass Sie sich melden«, sagt der Kommissar. »Ich

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