Kuckuckskind
eine glückliche Ehe zerstört, ein Kind zur Waise gemacht und zwei Menschenleben auf dem Gewissen hast.
Steffen Tucher
Meine Tränen fließen, vor mir liegt plötzlich eine Packung Papiertaschentücher, eine junge Frau bringt mir ein Glas Wasser. Der Kommissar lässt mich nicht aus den Augen, während er sagt: »Sie sind mit Recht schockiert, Frau Reinold. Auch wir hartgesottenen Burschen können nicht einfach zur Tagesordnung übergehen, wenn es zu einer so schrecklichen Katastrophe kommt. Meines Erachtens kann man eine Ehe allerdings nicht glücklich nennen, wenn mindestens drei Männer für die Vaterschaft in Frage kommen.«
Nach anhaltendem Schniefen frage ich: »Glauben Sie, dass dieser Brief der Wahrheit entspricht?«
»Im Wesentlichen schon, wenn wir auch manche Dinge jetzt nicht mehr aufklären können. Steffen Tuchers schwerer Autounfall war wohl bereits ein Selbstmordversuch. Die Leiche seiner Frau wird [303] wahrscheinlich erst durch einen Zufall entdeckt werden, denn wir können nicht den gesamten Bayerischen Wald durchforsten lassen. Und wir werden auch kaum erfahren, ob es sich um einen tragischen Unglücksfall oder um ein Tötungsdelikt zum Nachteil von Frau Tucher handelt.«
»Spielt das überhaupt noch eine Rolle?«, frage ich.
Er zuckt die Achseln. »Sie können eine Kopie des Briefes mitnehmen, das Original muss vorläufig bei den Akten bleiben.«
Der Kommissar steht auf und reicht mir die Hand. Sein Gesicht bleibt unbeweglich.
Auf dem Rückweg fahre ich langsam an Birgits und Steffens Haus vorbei. Vor der Garageneinfahrt stehen seit Jahren Blumentöpfe auf einer niedrigen Mauer. Auch nach Birgits Verschwinden wurden die Geranien wohl von einer Nachbarin gegossen, denn sie sahen stets gepflegt aus. Heute kommen sie mir völlig vertrocknet vor, wahrscheinlich liegt es an der Urlaubszeit. Mir fällt ein trauriges Lied ein, das wir unlängst im Chor gesungen hatten:
Es fiel ein Reif in der Frühlingsnacht.
Er fiel auf die zarten Blaublümelein,
sie sind verwelket, verdorret.
[304] 23
Jahrelang haben die Tuchers in der Weststadt gelebt, und direkt vor ihrer Garageneinfahrt ist Birgit im Auto verblutet. Ein Mann winkt mir schon von weitem zu, ich erkenne den Kollegen Anselm Schuster, der sich ebenfalls hier herumtreibt. Ich halte an und steige aus, denn ich habe das dringende Bedürfnis nach Trost.
»Ein Unschtern schwäbte über ihrem Haus«, sagt Anselm pathetisch. »Dabei war d’ Birgit so a fröhlichs Mädle!«
»Sie wird nie wieder lachen«, jammere ich. »Und ihr Mann hat sich erhängt, weil Birgit tot ist.«
Anselm umarmt mich auf offener Straße. Bei zu viel Mitleid fange ich bestimmt wieder an zu heulen.
Jetzt sagt er zu allem Überfluss: »Solle mir no a Schnäpsle trenga? Gega dr Tod isch bekanntlich a Kraut gwachsa!«
Das fehlt mir gerade noch. Doch bei der Gelegenheit frage ich ihn, ob auch er zum Gentest bestellt worden sei.
Ja, ja, sagt er grinsend, aber in diesem Punkt habe [305] er ein absolut reines Gewissen. Doch sei es schon verwunderlich, dass man das gesamte männliche Kollegium in Betracht gezogen habe! »Unser brave Schulmeischterin – la maîtresse d’école «, witzelt er, was ich pietätlos finde.
»Birgit war in der Tat eine Meisterin der französischen Sprache, aber bestimmt nicht eure Mätresse«, widerspreche ich. »Der Test diente nur zum Ausschluss einer vagen Theorie.«
» De mortuis nil nisi bene «, schiebt er schnell hinterher, nur um sein Latein unter Beweis zu stellen, und wir verabschieden uns.
Als ich in die Scheffelstraße zurückkomme, leert Patrick gerade einen Eimer mit kleingeschnittenen Holunderzweigen in die Biotonne. Bei meinem Anblick zieht er mich mit wichtiger Miene in den Garten. Dort hüpft mal wieder eine Amselfamilie auf dem Rasen herum. Die zwei Jungvögel, die man an den kürzeren Schwanzfedern erkennt, fliehen rasch ins Unterholz. Eigentlich bin ich an jeglichem Getier interessiert, aber gerade die Amseln vermehren sich hier so ungeniert, dass ich sie nicht mit der gleichen Begeisterung beobachte wie etwa einen Stieglitz.
»Du bist ja total am Boden zerstört, war es schlimm?«, fragt mich Patrick. »Mach dir nicht zu [306] viele Sorgen! Sehet die Vöglein auf dem Felde, sie säen nicht, sie ernten nicht und…«
»Mir ist jetzt nicht nach biblischen Vöglein. Steffen hatte mir einen Abschiedsbrief geschrieben, der es in sich hat.« Ich ziehe den kopierten Brief aus der Tasche.
Patrick setzt sich auf die Gartenbank und
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