Kuckuckskind
dieses bigotte Wesen immer für eine trübe Tasse, aber gerade so eine ist mitunter eine Meisterin im [295] Anbiedern. Anscheinend saß sie in jedem unbeobachteten Moment an Steffens Bett. Nun ja, zwei einsame Herzen, verstehst du. Ihr Vater verriet mir, dass sie aus einer anderen Klinik geflogen ist, weil sie unerlaubt missionierte. Allmählich übte sie auf diesen Steffen Tucher einen so starken Einfluss aus, dass er zu einem Geständnis bereit war. Bevor es aber dazu kam, hat er sich aufgehängt. Im Krankenhaus sind sie jetzt in großer Sorge, dass sie wegen Verletzung der Aufsichtspflicht belangt werden können, denn der Patient galt als depressiv. Andererseits war er nur bedingt in der Lage, sein Bett zu verlassen – da hält man es wohl nicht für nötig, ihn von früh bis spät zu überwachen.«
»Sollte er sich am helllichten Tag umgebracht haben, dann handelte das Personal trotzdem grob fahrlässig«, gebe ich zu bedenken.
»Es war bereits sehr spät«, sagt meine Mutter. »Die Polizisten wollten ihn erst am nächsten Morgen verhören. Die Nachtschwester schaut zwar immer mal in jedes Zimmer rein, aber sie muss sich schließlich um die ganze Station kümmern.«
»Fiel ihr das leere Bett nicht auf?«, frage ich.
»Der Patient hat einen uralten Trick angewendet, den man aus Gefängnisfilmen kennt. Die Bettdecke sah so aus, als habe sich eine Gestalt darin eingerollt.«
»Darauf bin ich auch einmal bei einer [296] Klassenfahrt hereingefallen, als zwei Schülerinnen heimlich in der Disko waren«, sage ich. »Weißt du noch weitere Einzelheiten, die Steffen seiner Beichtmutter gestanden hat?«
»Viel habe ich leider nicht erfahren, die Pflegerin unterliegt ja auch einer Schweigepflicht…«
Mutter legt auf und ruft drei Minuten später wieder an.
»Anja, ich habe noch etwas vergessen. Bei der Hausdurchsuchung fand man ein Bahnticket. Nachdem Steffen den Wagen seiner Frau in einem See versenkt hatte, musste er ja irgendwie wieder nach Hause kommen. Das sind doch wohl genügend schwerwiegende Indizien!«
Es kommt mir fast wie ein Symbol vor, als am Horizont eine dunkle Regenwolke aufzieht. Ein Blick nach draußen zeigt mir, dass wir gestern Abend die Kissen auf der Bank und den Gartenstühlen nicht ins Haus gebracht haben. Es ist immer etwas eklig, wenn sie nass werden, tagelang trocknen müssen und muffig riechen. Ich stürze also das zweite Mal die Treppe hinunter, wecke dabei leider den verpennten Patrick und rette schleunigst Kissen, Tischdecke und Sonnenschirm.
»Du hast aber ein Tempo drauf«, sagt mein müder Freund und gähnt.
[297] Die ersten Tropfen fallen, ich bin sekundenlang zufrieden mit mir. Aber bevor es richtig zu regnen anfängt, verzieht sich die obskure Wolke völlig unverrichteter Dinge.
»Das war mehr als überflüssig«, sagt Patrick, anstatt meine Geistesgegenwart zu bewundern.
Ich falle ihm um den Hals. »Steffen hat sich umgebracht«, schluchze ich und will getröstet werden.
Eigentlich müsste Patrick ebenfalls in Tränen ausbrechen, denn dieser Tod geht ja irgendwie auch auf sein Konto. Hätte er Birgit nicht geschwängert, wäre es nicht zu dieser Katastrophe gekommen.
Doch Patrick bleibt gelassen. »Er wird seine Gründe gehabt haben«, meint er. »Wer überbringt dir eigentlich am frühen Morgen solche Schreckensnachrichten?«
»Es steht in der Zeitung«, sage ich, »kannst es gleich selber lesen.«
»Nach dem Frühstück«, sagt er. »Und vielleicht sollten wir uns vorher die Zähne putzen.«
Derart auf meinen etwas anrüchigen Zustand aufmerksam gemacht, ziehe ich mich wieder in meine Gemächer zurück. Da ich das dringende Bedürfnis habe, über Steffens Suizid zu reden, rufe ich Gernot im Büro an, obwohl ich weiß, dass er das nicht leiden kann.
»Ich bin’s, die Anja«, sage ich.
[298] »Schon gut, ich habe die Zeitung gelesen«, sagt er kurz angebunden. »Ich rufe dich später zurück.«
Es bleibt mir also nichts anderes übrig, als mich zu duschen, zu kämmen und ordentlich anzuziehen.
Zur Belohnung erwartet mich ein gedeckter Frühstückstisch. Patrick liest mit gerunzelter Stirn den Zeitungsartikel, Victor träumt unter einem schattigen Baum, und eigentlich ist die Idylle perfekt, wenn auch trügerisch. So wundert es mich nicht, als nach meiner zweiten Tasse Kaffee Patricks Telefon klingelt. Es ist für mich, ein Anruf des Kommissars. Unter meiner Nummer sei ich ja leider nicht erreichbar gewesen, entschuldigt er sich.
»Was ist?«, fragt Patrick.
Weitere Kostenlose Bücher