Kuckuckskind
einen Kaffee auf und setze mich im Bademantel auf den Balkon. Patrick scheint unten in seinem Reich noch zu schlafen, später wollen wir gemeinsam ein ausgiebiges Frühstück im Garten einnehmen. Aber diese erste Tasse muss ich sofort haben, sonst komme ich nicht in die Gänge. Es fehlt eigentlich nur noch die Zeitung.
Auf leisen Sohlen husche ich die Treppe hinunter und schleiche mich zur Gartenpforte an den Briefkasten. Gleich werde ich es mir so richtig gemütlich machen und noch ungewaschen die ersten Sonnenstrahlen genießen. Beinahe wie Urlaub in der Provence, denke ich. Dort lief ich oft im Schlafanzug, barfuß und mit einem Becher in der Hand in französischen Gärten herum. Gern machte ich mich etwas nützlich und klaubte verwelkte Oleanderblüten aus den nach Vanille duftenden Sträuchern.
Auch auf meinem Balkon riecht es jetzt [292] verführerisch – das üppig wuchernde Alyssum duftet nach Honig, und die exotische Schokoladenblume macht ihrem Namen alle Ehre. Hier oben habe ich keinen Oleander, sondern fette rosa Begonien, die ich ebenso liebevoll von bräunlich verfärbten Blüten befreie. Auf Geranien habe ich ganz verzichtet, sie gehörten immer zu Birgit, die sogar ein Kaffeeservice mit Geranienranken besaß. Für die Teetassen bevorzugte sie ein Dekor aus Maiglöckchen. Schon seltsam, bei wie vielen Anlässen ich an meine Kollegin erinnert werde.
Meine eigene Tasse, weiß und ganz ohne Dekor, steht vor mir auf dem breiten Balkongeländer. Ich schlage die Beine übereinander und die Zeitung auf. Aktuelle Meldungen aus Politik und Wirtschaft sind mir durch die Nachrichten von gestern Abend bereits bekannt, ich blättere bis zum Lokalteil und stolpere über die fettgedruckte Überschrift: Selbstmord des Tatverdächtigen . Erschüttert ahne ich bereits, um wen es sich handeln muss. Nach den ersten erklärenden Sätzen wird es ernst.
Steffen T., der Ehemann der vermissten Lehrerin Birgit T., der seit einigen Wochen schwer verletzt in einer Ludwigshafener Klinik lag, offenbarte einer Pflegerin, dass er sich nunmehr an die Tatnacht erinnern könne und ein Geständnis ablegen wolle. [293] Auf Wunsch des Patienten informierte der diensthabende Arzt noch am späten Abend die Polizei.
Am frühen Morgen des nächsten Tages, noch vor dem Eintreffen der Beamten, war Steffen T. jedoch nicht in seinem Zimmer aufzufinden; er hatte sich am Bettgalgen eines leerstehenden Nachbarraums erhängt und konnte nicht mehr reanimiert werden.
Durch das Teilgeständnis, das er noch vor seinem Ableben der Krankenschwester gegenüber abgelegt hatte, könnte unter Umständen eine abschließende Klärung des Falles erreicht werden. Im Mittelpunkt steht nach wie vor die Suche nach der Vermissten.
Die Soko arbeitet im Augenblick fieberhaft an weiteren Ermittlungen.
Ihr Tagesblatt wird regelmäßig über die neuesten Erkenntnisse berichten.
Fassungslos möchte ich am liebsten mit der Zeitung in der Hand nach unten rennen und Patrick wecken. Inzwischen gehen wohl zwei Leichen auf mein Konto, obwohl Birgits Tod nicht mit Sicherheit bestätigt werden konnte. Hätte ich mich in meiner großen Wut und Eifersucht nicht in fremde Angelegenheiten eingemischt und Steffen zu einem Vaterschaftstest überredet, dann würde Victor in einer intakten Familie aufwachsen. Birgit hätte ihre helle Freude an diesem entzückenden Kind, Steffen wäre niemals [294] ausgerastet und hätte keine Schuld auf sich geladen. Ich beschließe, alles an Victor wiedergutzumachen und ihm eine treusorgende Mutter zu sein.
Das Baby schläft und ahnt nichts von meinen schwermütigen Gedanken. Seine Bäckchen sind rund und rosig, die erhobenen Händchen liegen lose geballt auf dem Kopfkissen. Ein schlafendes Kleinkind gleicht einem Engel und wird selbst in der finstersten Seele Rührung und Beschützerinstinkte auslösen.
Die Frau vom Jugendamt hatte gesagt, dass sie sich recht bald melden würde, um den Kontakt mit Birgits Kusine herzustellen. Es ist höchste Zeit, dass Patrick Farbe bekennt, sonst drohen weitere Tragödien. Victor hat sich völlig an uns gewöhnt und wir uns an ihn.
Manchmal freue ich mich sogar, wenn meine Mutter anruft. »Hast du schon die Zeitung gelesen?«, fragt sie aufgeregt.
»Ja«, antworte ich, »es ist furchtbar!«
»Ich kann noch mit ein paar weiteren Details aufwarten«, sagt sie stolz. »Die Tochter meines Nachbarn – von der ich dir ja schon erzählt habe – arbeitet als Krankenschwester in der besagten Klinik. Ich hielt
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