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Kuckuckskind

Kuckuckskind

Titel: Kuckuckskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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»Schon wieder eine Hiobsbotschaft?«
    »Weiß ich noch nicht«, antworte ich mürrisch, »aber ich soll möglichst bald zur Kripo kommen. Inzwischen kannst du dir ja mal Gedanken machen, was mit Victor wird.«
    »Zu Befehl, Majestät«, sagt er. »Eigentlich hatte ich schon einen perfekten Plan ausgeheckt: Wir entführen den Prinzen und fliehen auf die Taka-Tuka-Insel.«
    »Sehr witzig«, sage ich, gehe wieder nach oben und ziehe mich noch etwas anständiger an.
    [299] Bevor ich die Haustür hinter mir zuknallen kann, teilt mir Patrick eine viel läppischere Sorge mit: Manuel hat sich bisher noch kein einziges Mal gemeldet.
    »Auf hoher See hat er vielleicht keinen Handy-Empfang«, sage ich. »Warte, bis sie einen Hafen anlaufen. Wenn das Schiff auf einen Eisberg gestoßen und abgesoffen wäre, hättest du es längst erfahren.«
    Victors Schicksal steht nicht zur Debatte, das weiß ich, als ich das Zimmer des Kommissars betrete. Seine zusammengezogenen Brauen gleichen heute einem Stacheldrahtverhau. Dieser Mann ist auch nicht gerade glücklich über den Ausgang seiner Ermittlungen, denke ich. Er begrüßt mich kurz und wedelt dabei demonstrativ mit ein paar dichtbeschriebenen Blättern.
    »Wir haben uns erlaubt, einen Brief zu öffnen, der für Sie bestimmt war«, sagt er. »Sie können mich also getrost zur Hölle schicken.«
    Ich schaue ihn verständnislos an.
    »Haben Sie schon die Zeitung gelesen?«, fragt er, und ich nicke.
    »Herr Tucher hatte sich trotz einer Fülle von Indizien nicht zum Tathergang äußern wollen, bis ihn eine Krankenschwester – sagen wir mal mit nicht ganz korrekten Mitteln – unter Druck gesetzt hat.«
    [300] »Folter?«, frage ich.
    »Um Himmels willen, nein!«, sagt er und lächelt matt. »Allenfalls durch massiven psychischen Druck unter religiösem Deckmantel. Jedenfalls hat sie einem ohnedies Verzweifelten über Gebühr zugesetzt. Nun, um die Sache abzukürzen: Herr Tucher hat einen Brief geschrieben und der Pflegerin zum Einwerfen übergeben. Sie nahm den verschlossenen Umschlag abends mit nach Hause, hatte aber keine Briefmarke zur Hand. Am nächsten Tag erfuhr sie vom Tod ihres Patienten und übergab das Schreiben mir – obwohl es an Sie gerichtet ist. Bitte lesen Sie!«
    Wahrscheinlich bin ich blass geworden. Steffen hat mit blauem Kugelschreiber und sehr krakelig geschrieben, obwohl er eigentlich eine klare Handschrift hatte. Es ist ein längerer Brief ohne Anrede oder Gruß.
    Ich habe sowohl meine Frau als auch dieses Kind geliebt, ich war ein glücklicher und stolzer Papa. Wenn Du mir nicht diese schrecklichen Zweifel eingeredet hättest, wäre ich es immer noch.
    An jenem unseligen Abend hatte ich erfahren, dass Victor nicht mein Sohn ist, und glaubte natürlich, Gernot sei der Erzeuger. Ich wollte aus Birgit ein Geständnis herausprügeln, aber sie blieb stumm wie ein Fisch, wehrte sich nach Kräften und griff so [301] gar zum Küchenmesser, das ich ihr nur mit Gewalt entreißen konnte. Irgendwie muss ihre Verletzung bei unserem Gerangel zustande gekommen sein. Sie blutete stark und schrie um Hilfe, das Kind brüllte noch lauter. Als ich Verbandszeug suchen wollte, rannte sie zum Auto und fuhr Hals über Kopf davon. Sie will nur Zigaretten holen, hoffte ich, denn die waren ihr ausgegangen. Aber sie blieb einfach weg, und das Baby schrie zum Steinerweichen.
    Schließlich setzte ich mich in meinen Wagen, um Birgit zu suchen. Zuerst musste ich aber das brüllende Kind loswerden. Da ich der festen Meinung war, dass Gernot der Vater sein müsste, wollte ich Victor dort abliefern. Weil Dein sauberer Exmann aber nicht anzutreffen war, fuhr ich notgedrungen zu Dir. In diesem Moment bildete ich mir immer noch ein, dass Birgit nur etwas besorgen ging, aber mir schwante auf einmal, dass sie gar kein Geld bei sich hatte. Ich fuhr also wieder nach Hause und sah erleichtert, dass ihr Auto in der Einfahrt stand. Als ich den Schlag öffnete, hing sie blutüberströmt über dem Steuerrad. Und als ich sie herausziehen wollte, merkte ich, dass sie tot war, und geriet in Panik.
    Schließlich habe ich das Auto in die Garage gefahren, Birgit in den Kofferraum gebettet, eine Schaufel und eine Tasche mit sauberen Kleidern eingeladen und bin losgebraust.
    [302] Irgendwo tief im Bayerischen Wald habe ich meine Frau begraben und ihren Wagen später in einem See versenkt.
    Wenn Du diese Zeilen liest, Anja, bin ich hoffentlich längst in einer anderen Welt. Du aber musst damit weiterleben, dass Du

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