Kühlfach vier
sowohl Stolz auf Martin,
der hier vielleicht einen infamen, als Unfall oder Selbstmord getarnten Mord aufklärte, als auch Mitleid mit dem Toten, da
ich persönlich eine solche Todesfolge als doppelten Mord empfinde. Ich blickte dem Mann also mitleidig ins Gesicht – und schrie
los.
Der Schnitt, den Martin gerade vom Kehlkopf zum Brustbein angesetzt hatte, wurde zackig. Der Kollege blickte Martin mit gerunzelter
Stirn an.
»Was ist?«, fragte Martin mich lautlos. »Willst du mir den allerletzten Nerv rauben?«
»Den kenne ich«, sagte ich mit zitternder Stimme. »Den habe ich gestern hier im Haus gesehen. Und da habe ich ihn auch schon
erkannt.«
»Wie erkannt?«, fragte Martin zurück, während das Skalpell über der Leiche schwebte. »Wer ist das denn?«
|202| »Das weiß ich nicht«, gab ich zurück.
Martin stöhnte, und zwar so laut, dass der Gesichtsausdruck seines Kollegen zu tiefer Besorgnis wechselte.
»Wenn du ihn erkannt hast, dann musst du doch wissen, wer er ist«, sagte Martin.
Recht hat er, aber auch wieder nicht. Ich zermarterte mir das Gehirn und kam, da meine Überlegungen in diesem Fall verständlicherweise
auch immer irgendwie mit der Bahn zu tun hatten, auf die Antwort:
»Ich habe ihn an dem Tag gesehen, als ich von der Brücke gestoßen wurde«, sagte ich.
»Wirklich?« Die Frage klang, als ob Martin sich nicht zwischen Ungläubigkeit und Aufregung entscheiden könne.
»Ja«, bekräftigte ich. »Ziemlich sicher.«
Ich konnte mich ganz genau erinnern, dass ich den groß gewachsenen, dunkelhaarigen und dunkelhäutigen Mann auch danach noch
einmal irgendwo gesehen hatte, aber wo, das fiel mir jetzt nicht ein. Das konnte ja noch kommen. Jetzt galt es erst einmal,
die Frage nach der Identität des Mannes zu klären. Und da hatten wir eine erstklassige Spur, immerhin war der Typ gestern
hier im Haus gewesen.
»Was ist los, Martin?«, fragte der Kollege nun etwas ungeduldig. »Machen wir weiter?«
»Ja. Äh, nein. Also, gleich«, stammelte Martin. »Der Typ hat etwas mit dem Tod von Lerchenberg zu tun. Du weißt schon, der
von der Brücke … Und außerdem war er gestern hier im Haus.«
Martin legte sein Skalpell auf die Leiche, zog die Handschuhe aus und stürmte aus der Tür.
|203| »Martin«, rief der Kollege entsetzt. »Komm zurück!«
Ich verstand die Aufregung nicht so ganz, aber inzwischen weiß ich, dass man nie, wirklich niemals, eine Obduktion unterbricht.
Und wenn, dann macht man in seinem Diktiergerät eine entsprechende Notiz, die den Grund für die Unterbrechung nennt, dann
räumt man die Leiche ordentlich wieder weg und säubert den Sektionssaal und sich selbst.
Martin schien all das völlig vergessen zu haben, er raste wie von der Tarantel gestochen durchs Haus.
»Wer war der große, dunkelhaarige Mann, der gestern hier war?«, fragte er die Verwaltungssekretärin.
Sie blickte von ihren Papieren auf, starrte entsetzt auf Martins blutigfleckigen Kittel und sagte erst einmal gar nichts.
»Bitte, er liegt unten«, erklärte Martin leicht außer Atem. »Tot.«
»Was?« Es klang mehr wie ein Entsetzensschrei denn wie eine Frage.
»Der, der gestern hier bei Ihnen war. Ich habe ihn hier auf dem Flur gesehen«, stammelte Martin.
»Und der ist tot?«, fragte die Sekretärin mit Tränen in den Augen. »Der arme Mann.«
»Wer ist das?«, schrie Martin sie an.
Die Tür zum Chefzimmer wurde geöffnet und Martins Chef trat in das Büro seiner Sekretärin. »Was ist denn hier los?«, fragte
er und blickte schockiert auf die Szene, die sich ihm bot. Ein ungekämmter Martin in einem bekleckerten Kittel und eine heulende
Sekretärin, die sich anstarrten, als habe der eine die andere gerade bedroht oder ihr unsittliche Anträge gemacht.
|204| »Kommen Sie mit in mein Büro«, sagte der Chef, dann stutzte er. »Kommen Sie direkt aus dem Sektionssaal?«
Martin nickte.
»Dann ziehen Sie bitte erst den Kittel aus und waschen Sie sich die Hände – falls noch nicht geschehen.«
»Aber …«, begann Martin.
In dem Moment betrat der Kollege das Sekretariat.
»Was, zum Teufel, ist hier eigentlich los?«, fragte er. »Brechen wir die Obduktion jetzt offiziell ab oder kommst du wieder
runter?«
Der Chef kniff die Augen zusammen und betrachtete Martin mit wachsender Verärgerung. Dann wandte er sich an den Kollegen.
»Die Obduktion wird abgebrochen«, sagte er. »Bitte veranlassen Sie alles Notwendige.«
Der Kollege verschwand, Martin stapfte maulend
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