Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Kühlfach vier

Titel: Kühlfach vier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Profijt
Vom Netzwerk:
das wusste er.
     Aber Martin legte einen Stolz und eine Zähigkeit an den Tag, die ich ihm nicht zugetraut hätte. Allerdings stellte mich das
     in überhaupt absolut gar keiner Weise vor ein Problem. Ich würde ihn kleinkriegen, daran hegte ich nicht den geringsten Zweifel.
    Der Chef ließ ihn in Frieden ziehen und Martin schlich durchs Treppenhaus an seinen Arbeitsplatz zurück. Warum der nie den
     Aufzug benutzte, fragte ich mich kurz, denn als wir daran vorbeikamen, öffneten sich gerade die Türen und gaben den Blick
     frei auf einen Mann, der keinen Kittel, sondern einen Wintermantel trug. Ein Besucher. Erst als Martin und ich schon fast
     in seinem Büro waren, überfiel mich die Erkenntnis: Den habe ich schon mal irgendwo gesehen. Ich sauste zurück in das tiefer
     gelegene Stockwerk, konnte ihn aber nirgendwo entdecken. Inzwischen war ich mir selbst nicht mehr sicher, ob ich mich nicht
     vielleicht doch geirrt hatte. Ich zögerte noch einen Moment und huschte dann zurück zu Martin.
    Er saß am Computer, um Berichte zu diktieren. Diese Manie mit den Berichten ging mir auf den Sender. Was für ein langweiliger
     Job. Ein TOTlangweiliger Job, hahaha. Andererseits kam mir das Berichteschreiben gerade jetzt sehr gelegen, denn da konnte
     ich ja direkten Einfluss nehmen. Ich wartete ein paar Zeilen ab, in denen er sich über die sichtbaren äußeren Verletzungen
     ausließ. Er lieferte mir eine perfekte Steilvorlage, als er die Kopfwunde beschrieb: »offenbar mit einem stumpfen Gegenstand
     beigebrachte |193| Fraktur des Schädeldaches«. Ich ergänzte: »Es steht zu befürchten, dass es dem Sack in die Birne regnet.«
    Martin schnellte mit dem Oberkörper, der entspannt – oder kraftlos, wie man will – an der Stuhllehne gelehnt hatte, nach vorn
     und hämmerte auf der Tastatur herum, um meine Einfügung zu löschen. Schade, das hätte den trockenen Bericht mal ein bisschen
     belebt. Fünf Zeilen weiter fügte ich die Frage ein, welche Bewandtnis es wohl mit der Stichwunde im Oberschenkel hatte, die
     dem Toten
post
mortem
zugefügt worden war. Dieselbe Reaktion, diesmal sogar noch durch ein unwilliges Schnauben begleitet. Der Kollege gegenüber
     blickte unauffällig aus den Augenwinkeln in Martins Richtung.
    Martin warf das coole Headset von sich, öffnete geräuschvoll die Schreibtischschublade, entnahm ihr das alte Headset, stöpselte
     es ein und diktierte weiter. Sein Hirn formulierte ein gehässiges »Ätsch«, bevor er seine Gedankenströme mit einem Kraftakt
     des Willens wieder abschaltete.
    Mist.
    Ohne Einflussmöglichkeit war es natürlich noch langweiliger, diesen Berichten und ihrer mühevollen Entstehungsgeschichte beizuwohnen,
     und eigentlich wollte ich mich gerade nach einem fesselnderen Unterhaltungsprogramm umsehen, als die Spannung plötzlich rapide
     anstieg. Birgit betrat den Raum.
    »Oh, hallo«, stammelte Martin, als er sie sah. »Das ist aber eine Überraschung.«
    Nicht »schöne« Überraschung, nicht »das ist aber eine Freude«, nein. Einfach nur Überraschung. Denkbar uncharmant.
    |194| »Ich, äh, war gerade in der Nähe …«, sagte Birgit.
    Heute war offenbar der Tag der großen Lügen. Niemand ist »gerade in der Nähe« des rechtsmedizinischen Instituts. Dort gibt
     es ringsumher nichts, was zufällige Besucher anzieht. Das Institut ist von einem Friedhof und einer mehrspurigen Hauptverkehrsstraße
     umgeben. Sehr idyllisch.
    »Ja«, sagte Martin und stand immerhin auf, wobei sich das Kabel in einigen Papieren verhedderte und sie zu Boden fegte.
    »Oh«, sagte Birgit und schaute auf das Kabel. Dann glitt ihr Blick zu dem neuen, von ihr geschenkten Headset, das Martin in
     seinem Ärger einfach am ausgestreckten Arm irgendwo hingelegt hatte. »Irgendwo« war in diesem Fall zwischen den Mandarinenschalen
     auf dem Papiertaschentuch auf der Ecke des Schreibtisches – fertig zur Entsorgung, sozusagen.
    »Ich glaube, das war keine gute Idee«, sagte Birgit mit Tränen in den Augen, drehte sich um und ging.
    Martin hinterher, das Kabel spannte sich über seinem Kehlkopf, das Headset verrutschte, sodass ihm der Bügel, der immer schon
     gedrückt hatte, ins linke Auge rutschte. Martin befreite sich von dem jämmerlich verbogenen Teil und stürmte Birgit hinterher.
     Ich folgte unauffällig.
    Birgit lief bereits in einem Affentempo die Treppe hinunter, Martin und ich hinterher.
    »Birgit«, rief Martin. »Es ist nicht so, wie es aussieht.«
    »Ist mir egal«, rief Birgit über die

Weitere Kostenlose Bücher