Kühlfach vier
kannte, nicht ordentlich
frisiert. Sein Scheitel war total schief. Ich war entsetzt.
»Guten Morgen Martin«, sagte ich.
Martin zuckte zusammen, erwiderte aber nichts. Er ging in die Teeküche, nahm einen Kaffee(!), setzte sich an seinen Schreibtisch
und zog das Kabel des alten Kopf-Sprech-Hörers aus dem Computer. Er feuerte das Ding |199| mitsamt Schnur in die Schublade und setzte sich das schicke, neue Headset auf.
»Wenn du auch nur einen einzigen Buchstaben in meinen Computer diktierst, spreche ich nie wieder ein einziges Wort mit dir,
lasse eine Geisteraustreiberin kommen und verbreite die schauerlichsten Schwulengeschichten über dich«, raunte er lautlos.
Oho, der Ton hatte sich deutlich verschärft, aber immerhin sprach er überhaupt wieder mit mir. Manchmal muss man sich schon
über Kleinigkeiten freuen.
»Ich werde so brav sein, dass du dich fragen wirst, wo dein alter Freund Pascha abgeblieben ist«, entgegnete ich.
Ein Schnauben war die Antwort.
»Hast du mit Birgit gesprochen?«, fragte ich. »Das geht dich nichts an«, erwiderte Martin.
Na, das konnte ja heiter werden mit uns beiden.
Er machte mit dem gestern unterbrochenen Bericht weiter und ich ließ ihn in Ruhe. Total. Ich redete nicht mit ihm, versuchte
nicht, auf der Gefühlsebene Kontakt mit ihm zu bekommen, nichts. Ich war ganz und gar unsichtbar und unspürbar. Aber ich war
ganz in seiner Nähe und beobachtete ihn. Was ich sah, machte mir Sorgen. Martin diktierte manche Sätze zweimal, andere endeten
abrupt mittendrin, obwohl sie eigentlich noch gar nicht zu Ende waren. Er machte längere Pausen, in denen er einfach Löcher
in die Luft starrte oder einen Bleistift spitzte, bis der nur noch die Hälfte seiner Länge hatte. Er überhörte sein Telefon,
das minutenlang klingelte, ohne dass er es auch nur wahrnahm, und reagierte erst bei der dritten Ansprache auf Kollegen, die
ihm eine Frage stellten oder einfach einen guten Morgen wünschten. Auf dem Flur und in |200| der Teeküche wurde getuschelt und wieder ging es um Martin.
Als gegen halb zehn das Telefon wieder klingelte, schreckte Martin aus seinen Gedanken auf, ging sofort ran und ließ sich
von seinem Chef die Obduktion des Teile-Trios aufschwatzen. Wir gingen hinunter.
Auch wenn ich immer noch eine gewisse Zurückhaltung bei Obduktionen zeigte, fühle ich mich doch nicht mehr ganz so unwohl
wie bei den ersten Malen. Immerhin geht es um tote Menschen, nicht um Zombies, Aliens oder schleimiges Getier. Einfach nur
tote Menschen. Deswegen, das habe ich inzwischen begriffen, können die Rechtsmediziner auch ihrer Arbeit nachgehen, ohne selbst
geistig oder emotional über die Klinge zu springen. Sie untersuchen Menschen, die tot sind. Und interessanterweise helfen
sie damit diesen Menschen oder deren Angehörigen, obwohl sie sie natürlich nicht mehr ins Leben zurückbringen können. Aber
sie helfen, den Grund für den Tod zu finden. In manchen Fällen geht es um die Auszahlung von Lebensversicherungen, immer häufiger
um Klagen gegen Ärzte wegen Kunstfehlern oder um die Frage, ob Mord oder nicht Mord.
Das war nun in dem vorliegenden Fall nicht so furchtbar schwierig, denn wenn ein Mensch in drei Teilen angeliefert wird, ist
die Todesursache verhältnismäßig klar. Allerdings arbeiten die Rechtsmediziner nicht so, das hatten wir ja schon mal. Selbst
wenn so ein Puzzle auf dem Tisch liegt, beginnen sie ihre Untersuchung und ihren Bericht mit der Kleidung, dann mit der Kopfhaut
einschließlich Haaren, Gesichtshaut und Behaarung (also Augenbrauen, Wimpern), der Falte hinterm Ohr und solchem |201| Zeug. Man sollte meinen, dass so etwas im Fall eines Torsos, aus dessen unterer Öffnung das Herz seitlich heraushängt, irgendwie
übertrieben ist, aber im aktuellen Fall zeigte sich, dass diese Vermutung vorschnell und unqualifiziert war. Hinter dem linken
Ohr des Mannes zeigten sich Hautabschürfungen und Druckstellen, die ihm kurz vor seinem Tod beigebracht worden waren. Vermutlich
ein Schlag mit einem Totschläger. Das ist eine Art Socke, die man mit Sand oder Bleikügelchen füllt. Der Mann hatte sich also
eventuell gar nicht selbst vor den Regionalexpress geworfen, sondern war vielleicht gestoßen worden. Weitere Möglichkeit:
Er war sogar schon tot gewesen, bevor die Qualitätsräder aus deutschem Stahl ihr Schneidwerk vollbrachten.
Martin und der Kollege stellten das natürlich wie immer völlig emotionslos fest, aber ich empfand
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