Kühlfach vier
gleichgeschalteten Osten Europas, dem die Segnungen des europäischen Normungsinstituts über die Größe
von Kondomen ebenso verwehrt sind wie die Segnungen des Teuro, neuerdings auch Steuro genannt«, bekräftigte Katrin grinsend.
»Ein schön gewachsener Angehöriger eines geheimnisvollen Steppenvolkes, dessen Augen so schwarz glänzen wie der polierte Obsidian
seines Siegelrings.« Sie wurde ernst. »Zumindest fand ich das gestern. Heute ist er einfach ein armes Schwein, das fern der
Heimat Selbstmord beging, vermutlich dahingerafft von der Trauer über seine tote Schwester.«
»Ermordet«, sagte Martin geistesabwesend. »Nicht suizidiert.«
|208| »Wie bitte?«, fragte Katrin. »Mord?«
Martin nickte. »Wie hieß denn die Schwester?«, fragte er.
»Semira«, sagte Katrin. »Ich hatte mich schon gewundert, dass er erst herkommt und den größten Ärger mit der Polizei auf sich
nimmt, um seine Schwester angemessen in der Heimat bestatten zu können, und sich dann vor den Zug schmeißt. Passt irgendwie
nicht zusammen.«
»Warum Ärger mit der Polizei?«, fragte Martin.
»Er hat kein Visum und keinen Einreisestempel in seinem Pass.«
»Was heißt das?«, fragte Martin.
Sein Gehirn war wirklich Lichtjahre von der normalen Leistungsfähigkeit entfernt.
»Er ist illegal hier, und zwar vermutlich nicht erst seit gestern«, sagte Katrin.
Martins Chef tauchte in der Tür auf. »Herr Gänsewein, ich habe Ihren Antrag unterschrieben.«
Wortlos stand Martin auf, legte das Headset ab, ließ sich den Zettel reichen, setzte seine Unterschrift darunter und griff
nach seinem Dufflecoat.
»Tschüss«, sagte er und verließ das Büro, ohne sich noch einmal umzudrehen.
»Prima, dass du jetzt durch den Urlaub mehr Zeit für die Ermittlungen hast«, sagte ich, als wir auf dem Weg zum Auto waren.
Martins Reaktion ließ sehr zu wünschen übrig: Er reagierte gar nicht.
»Ich habe mir mal Gedanken darüber gemacht, wie wir jetzt am besten weiter vorgehen«, sagte ich. »Ich denke, |209| wir sollten unsere Ermittlungen noch mal im Umfeld von Semira aufnehmen.«
»Das tut die Polizei, da brauchen wir uns nicht einzumischen«, murrte Martin.
»Die kriegen doch nichts raus«, sagte ich.
Wir saßen inzwischen in der Ente, aber Martin machte keine Anstalten, den Motor anzulassen.
»Die Herren von der Kripo, genauer gesagt mein Freund Gregor, hat sogar erfahren, dass ich von Tür zu Tür gelaufen bin mit
einer Zeichnung in der Hand und einer völlig bescheuerten Geschichte, die mir vermutlich kein Mensch geglaubt hat.«
»Ja, aber das war etwas vollkommen anderes«, sagte ich ungeduldig.
»Und den Wohnort der Frau haben sie auch herausbekommen«, setzte er nach.
»Auch ganz was anderes«, sagte ich noch ungeduldiger. »Ach so«, sagte Martin und ich fand seinen Tonfall ein wenig ätzend
ironisch.
»Erstens war der Türwächter ein Spitzel, der nicht etwa eine sachdienliche Information über Semiras Identität, sondern nur
eine Beobachtung an seinen Führungsoffizier weitergegeben hat.«
Bei dem Wort Führungsoffizier zuckte Martin zusammen, aber ich ließ ihn gar nicht weiter darüber nachdenken. »Außerdem wollen
wir jetzt Informationen bekommen, deren Kenntnis an sich schon eine Straftat ist. Nämlich Informationen über eine illegale
Ausländerin. Diese Infos kann kein Mensch der Polizei geben, weil er damit ja zugeben würde, dass er eine Illegale geschützt
hat.«
|210| Darüber musste Martin erst einmal nachdenken und das tat er, während er das Motörchen der Ente anließ. Allein dieser Sound
ließ mir jedes Mal die Haare zu Berge stehen. Virtuell natürlich nur.
»Warum bist du davon überzeugt, dass die Frau irgendeine Bedeutung in deinem Fall hat?«, fragte Martin.
»Na, weil sie aus dem Osten kommt«, sagte ich. Wieso hatte er das immer noch nicht geriffelt?
Er enttäuschte meine schlimmsten Befürchtungen nicht, sondern fragte erwartungsgemäß: »Aus dem Osten?«
Jetzt mal unter uns: Martins geistige Potenz hat in den letzten Tagen dramatisch nachgelassen. Ich bin mir nicht sicher, woran
es genau liegt, aber inzwischen machte mir die Entwicklung Sorgen. Er benahm sich wie eine Blondine, der man die Relativitätstheorie
erklären will, die aber noch nicht einmal schnallt, dass Zeit nicht nur das ist, was vergeht, während ihr Nagellack trocknet.
»Pass auf«, begann ich und versuchte, das Große Ganze für Martin in viele kleine, verständliche Schrittchen zu
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