Kühlfach vier
Hunderte von Studenten sitzen, die konnte sie besuchen. An einer Mega-Uni mit zigtausend Studenten fällt eine mehr
oder weniger nicht auf.«
Yvonne hatte die ganze Zeit in ihrem Kaffee gerührt und stellte jetzt fest, dass sie noch gar keinen Zucker hineingetan hatte.
Das holte sie schnell nach, dann nahm sie einen großen Schluck.
»Sie war zwar sehr vorsichtig und wollte eigentlich gar keinen Kontakt, auch nicht zu den Studenten, aber wir saßen ein paarmal
nebeneinander und so kamen wir ins Gespräch. Sie hat mir erzählt, dass sie als Callgirl arbeitet. Das war der Einstieg in
mein Diplomarbeitsthema.«
»Hat sie für eine Agentur gearbeitet oder selbstständig?«, fragte Martin.
»Für eine Agentur. Genauer gesagt: für einen Agenten. Ich hätte ihn gern mal interviewt, aber sie wollte nicht verraten, wer
er ist.«
»Wissen Sie denn, wie der Kontakt zu dem Agenten zustande kam?«, fragte Martin.
»Nur, dass es gewissermaßen ein Zufall war, weil sein Hauptgeschäft eigentlich etwas anderes ist. ›Hochpreisiger |223| Luxus‹, an die Worte erinnere ich mich genau. Semira war stolz, dass der Typ sie auch als Luxusware bezeichnet hat. Ich persönlich
finde nicht, dass die Klassifizierung als ›Ware‹ ein Kompliment ist.«
»Schade«, sagte Martin. »Ohne den Agenten tappen wir ziemlich im Dunkeln.«
»Sie haben mir immer noch nicht erklärt, was Sie eigentlich hier wollen«, sagte Yvonne.
»Ja, das ist auch etwas kompliziert«, sagte Martin.
Damit kam er aber bei Yvonne nicht durch, das machte sie mit einer hochgezogenen Augenbraue mehr als deutlich.
»Semira starb zwar an einem anaphylaktischen Schock, aber das passierte anscheinend während der Ausübung ihres Berufs«, begann
Martin.
Schön formuliert. Und vollkommen ernst gemeint und vorgetragen – wissenschaftlich präzise eben.
»Ich vermute, dass der Kunde, bei dem sie verstarb, sie in den Kofferraum seines Autos steckte, um die Leiche heimlich verschwinden
zu lassen. Leider war das ein besonders wertvolles Auto, und leider wurde es dann geklaut. Mit Semiras Leiche im Kofferraum.«
»Nein!«, entfuhr es Yvonne. »Das ist ja wie im Film!«
»Ja«, bestätigte Martin. »Es sieht so aus, als seien im Zusammenhang mit diesem bedauernswerten Todesfall noch zwei echte
Morde verübt worden, nämlich an dem Autodieb und an Semiras Bruder.«
»Das wird ja immer schlimmer!«, hauchte sie.
»Deshalb muss ich den Halter des Autos herausfinden«, sagte Martin.
Yvonne runzelte die Stirn, sah ihn einen Augenblick |224| nachdenklich an und schüttelte dann den Kopf. »Aber warum sitzen Sie mitten in der Nacht hier herum und bemühen sich auf so
komplizierte Weise, den Halter herauszufinden? Das muss die Polizei doch mit einem Knopfdruck erledigen können.«
»Das setzt die Kenntnis der Autonummer voraus«, sagte Martin.
»Wenn der Wagen so außergewöhnlich wertvoll war, wie Sie sagen, wird es doch davon nicht Tausende geben. Da muss es wohl möglich
sein, eine Liste der Halter zu bekommen.«
Junge, Junge, die hatte wirklich was auf dem Kasten. Obwohl sie blond war.
Martin druckste herum. »Die Polizei hat gewisse Zusammenhänge noch nicht begriffen«, sagte er schließlich.
Kurze Pause, in der das Goldköpfchen fleißig grübelte. »Sie sind also auf eigene Faust hier unterwegs?«, fragte Yvonne.
Martin nickte.
»Alle Achtung«, murmelte sie. »Und weil Sie über die Polizei nicht an die Liste der Halter des gesuchten Autotyps herankommen,
müssen Sie Semiras Kunden überprüfen, um den zu finden, mit dem sie zuletzt zusammen war?«
Martin nickte erleichtert, weil endlich jemand in seine Richtung dachte und ihn nicht gleich für vollkommen bescheuert hielt.
Allerdings kannte sie ja auch längst nicht die ganze Geschichte. Mich zum Beispiel.
»Mal sehen, was Ihnen weiterhelfen könnte«, sagte sie nachdenklich. »Der Name des Agenten wäre toll, aber den kenne ich nicht.
Die Namen von Semiras Kunden kenne |225| ich natürlich auch nicht, da war sie sehr diskret. Aber sie hat bestimmt einige Bemerkungen gemacht, die uns vielleicht helfen
können.«
Sie dachte wieder nach und schlürfte dabei geräuschvoll an ihrem Kaffee.
»Hatte sie, äh, ich meine, also, in welcher Situation ist sie denn gestorben?«, fragte Yvonne.
»Sie war nackt, als sie starb, und sie hatte kurz vorher Geschlechtsverkehr gehabt«, erläuterte Martin ganz sachlich. Wenn
es um seine Berichte ging, war er Herr der Lage. »Sie hat vor oder
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