Kühlfach vier
Mehrere finster aussehende Typen beobachteten
die beiden.
»Oh«, machte das Engelchen und rutschte vom Hocker herunter. »Für uns schon, aber für’s Geschäft ist es schlecht. Kommen Sie
mit.«
Auch Martin rutschte vom Hocker, wurde aber vom Barmann unauffällig darauf hingewiesen, dass er gern gehen könne, die sechzig
Euro für das Bier und die zwei Gläser Schampus aber dableiben sollten. Martin zahlte und folgte der Blonden nach draußen.
»Also, woher kennen Sie Semira?«, fragte sie. »Und was wollen Sie von ihr?«
»Ich will nichts von ihr«, sagte Martin. »Sie ist tot.«
»Nein«, hauchte sie. Tränen füllten ihre riesigen Augen. »Wie?«
»Anaphylaktischer Schock«, sagte Martin. »Das ist …«
»Ich weiß, was das ist«, fauchte die Blonde. Oho, das Kätzchen fuhr die Krallen aus.
»Und wer sind Sie?«, fragte sie.
»Martin Gänsewein. Rechtsmediziner.«
Er reichte ihr die Hand, reflexartig schlug sie ein und murmelte: »Yvonne Kleinewefers.«
Ich kam, ehrlich gesagt, nicht mehr ganz mit. Langsam |220| begann ich mich zu fragen, wie die Blonde in diese Geschichte passte. Sie war nicht die typische Liebesdienerin in einem Russenpuff.
Als solche hätte sie auch nicht mit einem Kunden während der Arbeitszeit den Laden verlassen dürfen. Martin hatte ähnliche
Gedanken, ihm war außerdem kalt und so schlug er das Naheliegendste vor.
»Da drüben ist ein Café, lassen Sie uns dort etwas Heißes trinken gehen.«
Sie nickte und folgte ihm.
Martin bestellte einen Kamillentee, den es nicht gab, einen Pfefferminztee, den es auch nicht gab, und bevor er seine profunde
Kenntnis weiterer Heil- und Klosterkräuter zum Besten geben konnte, orderte Frau Kleinewefers zwei Kaffee. Basta.
Sie übernahm auch die Gesprächsführung, immer noch wie ein himmlisches Wesen, das sich aber vom Rauschegold- zum Racheengel
gemausert hatte.
»Was hat das zu bedeuten, dass ein Rechtsmediziner nachts durch die Puffs zieht und Fragen über Semira stellt?«, fragte sie.
»Haben Sie das Foto von Semira nicht in der Zeitung gesehen?«, fragte Martin im Gegenzug.
»Nein, neben meiner nächtlichen Feldforschung und meinem Studium bleibt mir nicht so furchtbar viel Zeit für die bildungsbürgerliche
Zeitungslektüre«, fauchte sie.
»Feldforschung?«, fragte Martin irritiert.
»Ich plane meine Diplomarbeit über die Erwartungen von Männern, die in den Puff gehen. Was sie wirklich dort suchen, ihre
echten Bedürfnisse, die gar nicht immer unbedingt |221| mit Sex zu tun haben, damit aber befriedigt werden sollen«, leierte sie herunter. »Mein Prof ist davon noch nicht so ganz
überzeugt, deshalb sammle ich schon mal Material, damit er mir das Thema genehmigt.«
»Sie studieren Psychologie?«, fragte Martin.
»Nein, Wirtschaftswissenschaften.«
Martin verschluckte sich an dem Kaffee, der gerade gebracht worden war. »Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?«, fragte er zwischen
zwei Hustenanfällen.
»Seit die Prostitution legalisiert wurde, ist sie ein noch einträglicherer Wirtschaftsfaktor geworden, an dem sich jetzt auch
die öffentliche Hand legal bereichern kann. Unsere schöne Domstadt Köln beispielsweise erhebt seit 2004 eine Sex-Steuer, die
knapp eine Million Euro im Jahr einbringt.«
»Eine Sex-Steuer?«, stammelte Martin. »Von den …« Hier versagte offensichtlich sein gepflegtes Vokabular.
»Von den Nutten, Zuhältern, Bordellen. Dem Finanzamt ist egal, wer zahlt, aber von jedem Euro, der in diesem Dienstleistungsbereich
umgesetzt wird, geht ein Anteil an den Fiskus.«
Martin schüttelte fassungslos den Kopf.
»Da Prostitution nun legal ist, kann die Agentur für Arbeit Frauen theoretisch sogar in einen Puff vermitteln. Praktisch hat
es solche Vermittlungsfälle allerdings noch nicht gegeben.«
»Noch nicht«, murmelte Martin.
»Tja, und vor dem genannten Hintergrund ergibt sich die Frage, wie das Angebot in diesem sehr lukrativen Dienstleistungsbereich
optimiert werden kann. Sie wissen ja, Dienstleistungen expandieren, das ist die Zukunft.«
|222| »Und durch diese, ähem, Feldforschung haben Sie Semira kennengelernt?«, fragte Martin.
Sie schüttelte den Kopf. »Andersherum. Ich habe Semira an der Uni kennengelernt.«
»Sie hat studiert?« Martin wurde immer verwirrter. »Aber sie war doch gar nicht offiziell …«
»Aber sie war verdammt clever. Sie war nicht eingeschrieben, konnte also auch keine Seminare besuchen. Aber die großen Vorlesungen,
in denen
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