Kuenstlernovellenovellen
geistigen Ansprüche, die wir stellten, im geringsten gelitten hätten.
Die letzte Zeit hatte ich einen Freund, dem ich für Weltbild und geistige Voraussetzungen unberechenbar viel verdanke. Direktor eines großen Unternehmens natürlich. Das sind wir alle."
Aus Erschöpfung hielt er kurz an, machte dann aber eine um so stärkere Handbewegung.
„Mit ihm verstand ich mich. Unser neues Menschentum ist nur dynamisch zu bestimmen. Wir mußten handeln -nun kurz, wir mußten spielen. Er hat sich erschossen." Blieb stehen und horchte, die Augen geschlossen. „Heute?" fragte die Schwester. „Oh, dann komme ich dir ungelegen! Ich würde gehen, wenn ich wüßte wohin." „So schlecht geht es dir?"
„Das nicht", sagte sie. „Man wartet sogar mit aller erdenklichen Sehnsucht auf mich." „Alle Wetter, du bist hübsch geworden." „Aber es ist zu viel geschehen", sagte sie mutlos. „Mir kannst du alles sagen", beteuerte er kühn. „Errate doch selbst, es ist so banal." „Max hat dich betrogen." „Mehr fällt dir nicht ein?" „Darauf du ihn."
„Nein", sagte sie. „Er hat es nicht abgewartet. Er war im Schauspielerrat, er konnte meine Entlassung durchsetzen. Obwohl alle mich halten wollten", sagte sie schnell. „Ich war bei Presse und Publikum unglaublich beliebt." „Das war das", sagte der Bruder. „Nein", sagte sie wieder. „Es ging weiter. Er reiste mir ins nächste Engagement nach. Er war demütig, reuevoll, verliebter als je, ich ward ihn nicht mehr los." „Du haßtest ihn unbeschreiblich."
„Kann man denn immer hassen und lieben?" fragte sie. „Ich fing schon an, müde zu werden ... Ich hatte nun einen Liebhaber, reicher Mann, er heiratete. Mein Gott, ich hätte ihn deswegen nicht fallengelassen." „So wird man", sagte der Bruder.
„Was tut aber Max? Er überfällt den Mann auf seiner Hochzeit! Um mich zu rächen! Skandal, ich fliege aus dem Engagement."
„Aber das ergibt für dich eine Weltreklame! Ich war Reklamechef!"
„Sagte ich dir nicht, daß ich müde bin? Meine Stimme hat auch schon gelitten."
„Ja so" - er führte sie zu seinem Sofa. „Ruhe aus, ich bin da."
Klopfen. Plötzlich war Berthold nicht mehr da, er steckte im Alkoven. „Nein!" schrie sie und lief hin. Mit verzweifelter Dringlichkeit: „Wen erwartest du?" „O niemand von Belang", sagte er; denn wer eintrat, war die Hausfrau mit dem Tee. Die Geschwister ließen sie den Tisch decken. Allein geblieben, setzten sie sich, immer noch schweigend, aßen aber nicht - und auf einmal weinten sie. Sie weinten gemeinsam, einer an der Schulter des anderen, feucht schluchzend wie Kinder, und lange, lange.
Erst aus Müdigkeit hörten sie auf. Faßten sich nun bei den Händen und flüsterten: „Wir schämen uns nicht mehr voreinander. Früher zu Hause schämten wir uns." „Das ist nun doch ein Gewinn", sagte der Bruder. Die Schwester fragte:
„Haben wir eigentlich nicht schon das Ganze als Kinder erlebt?"
„Im Traum", sagte er. „Ob im Garten noch die Bank steht?"
Die Schwester:
„Auf der Bank lasest du mir das Märchen von den roten Schuhen vor. Ich fürchtete mich vor ihnen. Und jetzt, manchmal, wenn ich nicht weiß, wohin es noch kommen soll, denke ich, daß ich an den Füßen die roten Schuhe habe, die immer weiter tanzen. Ob man will oder nicht, immer weiter."
NACHWORT
Im mer wieder und durchaus zu Recht wird das dichterische Werk Heinrich Manns unter dem Gesichtspunkt der Forderung nach der Identität von Geist und Macht gewürdigt. Zweifellos findet sich diese charakteristische Einheit von Denken und Handeln, von Erkennen und Verändern in den hier ausgewählten sechs Novellen nicht dergestalt wie in seinen Essays oder seinen Romanen. Betrachtet man aber die vorliegenden Novellen zuerst unter dem Gesichtspunkt des Verhältnisses von Kunst und Leben, so eröffnen sie gerade von dieser Seite her Verständnis für das Werk und die Wirksamkeit des Künstlers Heinrich Mann. Seine Novellen geben Einblick in Lebenssphären, denen der Dichter seit früher Jugend nahestand, die er intim kannte, mit kritischem Blick beobachtete und über die er in immer neuen Variationen geschrieben hat. Seine Schwester Carla, Schauspielerin und Heinrich Mann „die nächste aus der Familie", erklärte schon sehr früh einen der bemerkenswertesten Züge seines literarischen Gestaltungsvermögens mit dem Satz: „Wer dich liest, sieht Menschen". Wie das für die Dramen und Romane des Dichters gilt, so erst recht für seine Novellen, die von
Weitere Kostenlose Bücher